Ludwig Janus im Interview

Sehr geehrter Herr Dr. Janus, Sie sind einer der Pioniere und führend im Bereich der Pränatalen Psychologie, bezeichnen sich aber auch als „Psychohistoriker“. Worum geht es in diesen beiden Bereichen, und wie hängen sie zusammen?

 

In verschiedenen psychotherapeutischen Settings wurde immer wieder die Beobachtung gemacht, dass früheste vorsprachliche Erfahrungen aus der Zeit vor, während und nach der Geburt im Erleben in Gefühlen und Empfindungen auftauchen konnten. So war es etwa möglich, quälende Kompressionsempfindungen am Kopf mit einer Zangengeburt in Verbindung zu bringen oder Einengungsgefühle am Hals mit einer Nabelschnurumschlingung bei der Geburt. Entsprechend war das auch für vorgeburtliche Beeinträchtigungen möglich, die sich in späteren Vernichtungsgefühlen und Suizidversuchen widerspiegeln konnten. Die Entdeckung dieser Zusammenhänge erfolgte an traumatischen Ereignissen, weil sie sich im späteren Leben schärfer abbilden. Diese Beobachtungen bildeten ein Trainingsfeld dafür, die Wahrnehmung für Nachklänge von frühesten Erfahrungen im späteren Erleben zu entwickeln. So können etwa die Befindlichkeiten und Stimmungen der Mutter während der Schwangerschaft das spätere Lebensgefühl beeinflussen. 

 

Die Beobachtungen auf der individuellen Ebene ermöglichen es, auch in den Mythologien einer Gesellschaft, die kollektiven Nachklänge von Erfahrungen  während der  Schwangerschaft und der Geburt zu erfassen. So kann man etwa in der Paradiesmythe  die Widerspiegelung der Urerfahrung einer guten vorgeburtlichen Situation vermuten, in der man durch ein höheres Wesen geschützt war, und im Sündenfall auch deren abruptes und unvermitteltes das Ende. In der Dramatik des Sündenfalls könnte sich die evolutionsbiologisch begründete große Hilflosigkeit und Unreife von menschlichen Neugeborenen widerspiegeln. Die verschiedenen Höllenvorstellungen könnte man in diesem Sinne als Nachklänge von traumatischen vorgeburtlichen und geburtlichen Erfahrungen verstehen.

 

Könnten Sie die Konsequenzen für die individuelle Biographie und für die Gesamtgesellschaft noch an je einem Beispiel illustrieren?

 

Wir haben in der Geburtshilfe heutzutage die Situation, dass Schwangerschaft und Geburt   durch das medizinische Wissen in einer geschichtlich neuen Weise im Vergleich zu früheren Zeiten sicher geworden sind.  Das Problem dabei ist, dass die medizinische Perspektive auf mögliche Gefährdungen den Umgang mit Schwangerschaft und Geburt heutzutage in einer eingeengten Weise wesentlich prägt: 70 % der Schwangerschaften erscheinen aus dieser störungsorientierten Sicht als Risikoschwangerschaften, und ca. 90 % der Geburten sind aus dem gleichen Grunde mehr oder weniger durch  geburtshilfliche und medikamentöse Interventionen geprägt. 

 

Andererseits hat es die durch den medizinischen Fortschritt erreichte große Sicherheit überhaupt ermöglicht, dass wir uns der Erlebnisseite der Geburt und der Schwangerschaft so zuwenden konnten, wie das im Bereich der Pränatalen Psychologie seit vielen Jahrzehnten geschieht. Die hierdurch gewonnenen Einsichten in die psychologische Dimension von Schwangerschaft und Geburt[1] ermöglichten es aber auch, die traumatischen Aspekte  geburtshilflicher Interventionen in ihren Nachwirkungen in der Lebensgestaltung zu erfassen. Durch die Dokumentationen der Geburtshelfer über den Verlauf der jeweiligen Geburt haben wir eine genaue Schilderung der Ausgangssituation. Das ermöglicht im Rahmen von regressionstherapeutischen psychotherapeutischen Settings, die ganz auf das körperliche Empfinden und Erleben zentrieren[2], die Erfassung der Nachwirkungen der Geburtsbedingungen. So kann etwa bei einer Kaiserschnittgeburt das Fehlen der Kraftanstrengung bei einer vaginalen Geburt, sich mit Hilfe der Mutter zur Welt zu bringen, im späteren Leben zu Schwierigkeiten führen, zielstrebig zu handeln, weil man irrationaler Weise entsprechend dem Urmuster einer Geburt durch Kaiserschnitt, eine Hilfe von außen erwartet.  Die Entfremdungsgefühle bei einer Kaiserschnittgeburt können später auch den Hintergrund von Unsicherheiten und Ängstlichkeit in Liebesbeziehungen bilden.

 

Für ein Verständnis der  Dramatik der menschlichen ist die Reflexion  der Besonderheit der Geburtsbedingungen  beim Homo sapiens im Vergleich mit  den anderen Primaten wichtig. Der aufrechte Gang ist mit der  Notwendigkeit eines festen Beckenrings verbunden, um ein stabiles und elastisches Gehen und Laufen zu ermöglichen. Ein solcher fester Beckenring kann sich bei der Geburt nicht öffnen, wie das bei den anderen Primaten und Säugetieren der Fall ist. Um eine Geburt unter diesen Bedingungen bei einem durch die Vergrößerung des Gehirns wachsenden Kopfumfang zu ermöglichen, erfolgte im Laufe der Evolution eine Verkürzung der Schwangerschaft mit der Folge einer großen Unreife und Hilflosigkeit der Neugeborenen. Das wiederum hatte die Folge, dass Babys die ersten anderthalb Lebensjahre in einem traumartigen Bewusstsein verbringen, das letztlich erst im fünften Lebensjahr mit der Entwicklung einer „theory of mind“, der Fähigkeit zu einer realistischen Beurteilung der Befindlichkeit des anderen und von sich selbst wirklich überwunden wird. Auch die Entwicklung der Menschheit beginnt im Rahmen der animistischen Kulturen in einem traumartigen Bewusstsein, aus dem sie sich im Laufe der Geschichte über die zunehmende Entwicklung rationaler Fähigkeiten in einem Prozess der „Bewusstseinsevolution“ herausarbeitet, wie sie insbesondere im „Human Global Development Research Institut (DRI) in Wien erforscht wird (www.development-institute.org).[3]

 

Bevor wir zur weiteren theoretischen Vertiefung kommen: welche Institutionen, Vereine oder Veranstaltungen gibt es in diesem Bereich, mit anderen Worten, welche Webseiten empfehlen sich?

 

Die genannten Beobachtungen im psychotherapeutischen und geburtshilflichen Bereich führten 1971 zur Gründung der International Society for „Pre- and Perinatal Psychology and Medicine“ (www.isppm.de) in Europa und 1981 zur Gründung der „American Association for Prenatal and Perinatal Psychology and Health§ (www.birthpsychology.com) inden USA. Beide Gesellschaften machen regelmäßig internationale Kongresse und geben eigene Zeitschriften heraus, die auf den Webseiten angezeigt sind. Auch in Italien gibt es zwei Gesellschaften für Pränatale Psychologie (www.anep.it, www.anpep.it). 

 

In Heidelberg bemüht sich das „Institut für pränatale Psychologie und Medizin“ (www.pränatalpsychologie.de), das vorhandene Wissen im Bereich der Psychotherapie, der Geburtshilfe und den Kulturwissenschaften zu vermitteln.

 

Die kollektivpsychologische Dimension in der Geschichte und in der Gesellschaft wird von den psychohistorischen Gesellschaften in den USA und in Deutschland erforscht (www.psychohistory.com, www.gppp.de).

 

Für den Bereich der historischen psychischen Entwicklung von Gesellschaften gibt es auch das Konzept der „Mentalitätsgeschichte“. Wie verhält sich ihre Arbeit dazu?

 

Die  Geburt in einem Zustand der Unreife und Hilflosigkeit hatte die Folge, dass die Menschen die Welt in zweierlei Weise wahrnehmen, einmal in einer magischen und mythischen Weise aus dem frühesten vorsprachlichen kindlichen Erleben heraus, und zum anderen, aus dem reiferen Erleben einer deutlichen Differenzierung zwischen innen und außen, wie sie mit der „theory of mind“ in unserer Kultur mit etwa fünf Jahren erreicht wird. Das beständige Scheiternder Erfüllung magischer Wünsche in der Außenwelt am Anfang der Menschheitsgeschichte war der Hintergrund für den elementaren Impuls, die Welt so zu verändern, dass sie sich ein Stück weit so anfühlt, und auch so ist, wie die zu früh verlorene Mutterleibwelt. Das ist der Hintergrund für die basalen menschlichen Erfindungen wie Kleidung und Hausbau und später die Umwandlung der Welt in eine Nährwelt durch Ackerbau und Viehzucht und noch später die Erfindung der künstlichen Lebenswelten der städtischen Siedlungen. All diese Erfindungen bedeuten aber gleichzeitig eine innere Umgestaltung und zunehmende Nutzung der kognitiven Potenziale der linken Hirnhemisphäre. Dabei bedeutete die Entwicklung der Sprache eine enorme Dynamisierung der geschichtlichen Entwicklung im Sinne einer intensiven Wechselwirkung zwischen Veränderung der äußeren Welt und der inneren Organisation oder Mentalität. Durch die Entwicklung der Schrift konnten die Erfahrungen früherer Generationen dann noch einmal konsistenter weitergegeben werden, so dass jede neue Generation auf einem enormen Wissensschatz aufbauen konnte und so die Welt und sich selbst immer wieder neu erleben und verstehen konnte. Diese Zusammenhänge sind eine  Ressource für das Verständnis der so erstaunlichen Mentalitätsentwicklung in der  Geschichte der Menschheit.[4]

 

Im DRI verwenden wir das Konzept der Bewusstseinsevolution, das maßgeblich von Willy Obrist entwickelt worden ist. Mir scheint, dass „Mentalitätsgeschichte“ eher deskriptiv ist, eben eine Ebene der Erfassung historischen Geschehens, während „Bewusstseinsevolution“ eine Zielrichtung beinhaltet, von archaisch nach integral. Sehen Sie das auch so?

 

Dieser Aussage stimme ich grundsätzlich zu. Man könnte es so sehen, dass Jean Gebser[5] mit seiner Beschreibung der geschichtlichen Bewusstseinsstrukturen von einer magischen, einer mythischen, einer rationalen und schließlich integralen Bewusstseinsstruktur grundlegende Stufen der Mentalitätsentwicklung  erfasst hat. Willy Obrist[6] hat dann mit  der Beschreibung der Bedeutung der zunehmenden Innen – Außen – Differenzierung im Laufe der Menschheitsentwicklung einen entscheidenden inneren Faktor der Mentalitätsentwicklung erfasst. Die Pränatale Psychologie konnte das Verständnis für diese Einsicht durch die Erkenntnis der entwicklungpsychologischen Voraussetzungen hierfür in dem doppelten Weltverhältnis in der vorsprachlichen Zeit neurologischer Unreife und der späteren realistischer Wahrnehmungen nach der Ausreifung des präfrontalen Kortex und des Hippocampus vertiefen und ergänzen. Das macht das Konzept einer Bewusstseinsevolution noch evidenter vermittelbarer. Dabei ist bedeutsam, dass unsere erste Welterfahrung eben vor der Geburt als Fötus stattfindet und von daher unsere nachgeburtliche Welterfahrung basal prägt. Es ist  also der Dreiklang aus dem  fötalen Erleben, den Primateninstinkten und dem Verstand, die den Wesenskern des Humor sapiens ausmachen.[7]

 

Der Soziologe Prof. Dr. Arnold Bammé schreibt in seinem Artikel "Die Normalität des Krieges - Ein blinder Fleck der Soziologie": "Alle Menschen möchten in Frieden leben. Und doch werden ständig Kriege geführt. [...]. Es wird sie geben, solange sich die Mentalitätsstruktur der Menschheit, die im Pleistozän ihre Wurzeln haben mag, nicht grundlegend ändert." Teilen sie den Optimismus, oder sehen sie zumindest die Möglichkeit für eine solche Mentalitätsänderung?

 

Angesichts dessen, dass wir in den letzten 500 Jahren eine ganz erstaunliche Mentalitätsentwicklung von einer mittelalterlich-absolutistischen Mentalität einer von Kaisern und Päpsten dominierten Gesellschaft zu breiten Ansätzen zu einer Identität der Moderne mit einer Orientierung an Vernunft und Verantwortung kann man in Bezug auf die künftige Entwicklung durchaus verhalten optimistisch sein. Ein großes Problem ist die Zersplitterung im Feld der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften. Eine zentrale Einsicht im Rahmen der Psychotherapie besteht in der Erkenntnis, dass wir als Erwachsene in wesentlicher Hinsicht Kindheitserfahrungen wiederholen und dabei gilt für traumatische Erfahrungen, dass wir  als Erwachsene der Welt das antun, was man uns als Kind angetan hatte. Das gilt natürlich auch für die kollektiven Sozialisationsbedingungen und ist ein wichtiger psychosozialer Hintergrund für den aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Beide Gesellschaften haben eine extrem gewaltbelastete Geschichte, was immer besonders die Kindheitsbedingungen betraf. Die Ausblendung dieses grundlegenden Zusammenhangs ist ein wesentlicher Grund für die von Herrn Bammé beschriebenen „blinden Fleck“ der Soziologie in Bezug auf das Verständnis der psychosozialen Hintergründe von Kriegen. Doch gibt es neuerdings in der Psychohistorie (www.psychohistorie) Ansätze zu einem interdisziplinären Verstehensansätzen.[8]

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Gespräch mit Dr. L. Janus führte Mag. DDr. P. Gowin, DRI.

 

 

 

Fußnoten 

 

[1] Ludwig Janus (2023) Die psychologische Dimension  von Schwangerschaft und Geburt. Mattes, Heidelberg.

[2] Ludwig Janus (2013) (Hg.) Die pränatale Dimension in der Psychotherapie. Mattes, Heidelberg.

William Emerson (2021) Geburtstrauma – Die Auswirkungen der modernen Geburtshilfe auf die Psyche der Menschen. Mattes, Heidelberg.

[3] Peter Gowin, Nana Walzer (2017) Die Evolution der Menschlichkeit. Wege zu einer Welt von morgen. Braumüller, Wien.

[4] Ludwig Janus (2013) (Hg.) Die Psychologie der Mentalitätsentwicklung. LIT, Münster.

[5] Jean Gebser (1949) Ursprung und Gegenwart. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.

[6] Willy Obrist (1988) Die Mutation des Bewusstseins. Lang, Frankfurt.

[7] Ludwig Janus (2018) Homo foetalis et sapiens. Das Wechselspiel des fötalen Erleben  mit den Primateninstinkte und dem Verstand als Wesenskern des Menschen. Mattes, Heidelberg.

Ludwig Janus (2021)  Mundus foetalis – die pränatale Dimension in Geschichte und gesellschaftlichem Bewusstsein. Mattes, Heidelberg

[8] Ludwig Janus (2022) Warum Krieg? Y-Zeitschrift für atopisches Denken. https://www.ypsilon-psychoanalyse.de/tribuene/84-warum-krieg. 

Ludwig Janus L (2023) Reflections on the Psychological and Psychohistorical Causes of the War in Ukraine and of wars in General. Journal of Psychohistory 50,3: 164-174. 

 

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