Digitaler Humanismus oder Digitalisierung des Humanen

Digitaler Humanismus oder Digitalisierung des Humanen

Teil 2: Digitalisierung als ethische Aufgabe

 

von Robert Brunnhuber MSc

 

In „The Circle“ stellt sich das prophezeite Glück nicht ein. Menschliche Bedürfnisse werden eher frustriert als befriedigt. Der Film beschreibt jedoch nur eine mögliche Welt von vielen in der nahen Zukunft. Die allgemeine Lehre dieser einen möglichen Welt lautet: Was eine vollends technologisierte Welt in diesen Dystopien bedeutet, ist der Verlust der Menschlichkeit selbst, oder zumindest eine starke Abweichung davon. Die entsprechende Antwort: Digitaler Humanismus. „The Circle“ ist lediglich ein Beispiel aus einer Reihe von Filmen, die das Thema Digitalisierung als Makrotrend problematisieren. Jedoch verglichen mit „Blockbustern“ ähnlicher Art ein durchaus realistisches Szenario, weil er die aktuellen Trends aufgreift und logisch konsistent weiterverfolgt. Ein ganzes Bündel solcher Szenarien wird in der Serie „Sliders“ thematisiert. Die Protagonisten finden sich häufig in einer Parallelwelt wieder, in der die Technologisierung entweder an ihr Limit getrieben wurde, oder aber Technologie absichtlich weitgehend verboten wurde. Zwar dient diese wie jede andere Serie der Unterhaltung, doch führt das „Betrachten“ möglicher Welten zur Erkenntnis moralischer Intuitionen. „The Circle“ ist somit nicht das einzig realistische Szenario. Somit gilt es die guten Tendenzen zu fördern, sowie die weniger guten zu reduzieren. Die lehrreiche Konklusion für die Gegenwart: Ziel und Zweck der gesamten Digitalisierung sollte Menschlichkeit – und nicht etwa deren Überwindung – sein. Das soll nun begründet und erklärt werden.

 

III: Digitaler Humanismus als Teil eines Gesamtkonzepts einer guten Welt.

 

Digitalisierung wird mittlerweile von immer mehr Instanzen als ethische Aufgabe begriffen. Dazu vorab einige grundlegende Bemerkungen:

(A) Technologisierung hat ihrem „Wesen nach“ die implizite Tendenz von der Menschlichkeit abzuweichen, d.h. den Menschen der Technik unterzuordnen oder gar den Menschen „technologischer“ zu machen. Daher muss ihr auch eine gegenteilige Neigung entgegensetzt werden, die die Tendenz in Richtung Menschlichkeit zurückführt. Um also die „gute und richtige“ Zukunft zu wählen, ist es von Vorteil, sich verschiedene mögliche Welten zu „vergegenwärtigen“, um zu definieren, was in diesen gut ist und was nicht. Oder: Eine Szenarienanalyse möglicher naher Zukünfte, welche Risiken diese beherbergen, sowie ethisch konnotiert: welche darin befindlichen moralischen Leitplanken gut sind. Somit: Das Beste aus allen möglichen Welten (Leibniz). Zu diesem Zweck wird hier der Ansatz nach Siep (2016) hervorgehoben. Digitalisierung muss ins Gesamtkonzept einer „guten Welt“ passen, wofür Sieps „empfehlenswerte“ konkrete Ethik den „Bauplan“ liefert. Dazu einige (1) allgemeine Ausführungen, sowie einige (2) lösungsorientierte Ausführungen zur Einbettung des Digitalen Humanismus in dieses Gesamtkonzept einer „guten Welt“. (1) Die Problemstellung der Digitalisierung kann nun mit Siep (2016) konkretisiert werden: Eine ideal gute Welt ist somit eine solche, welche (a) mannigfaltig (im Gegensatz zu monoton, z.B. der paradiesische Garten oder die Oase in der Wüste) ist, (b) natürlich – wobei dies im Zuge der Digitalisierung noch näher zu spezifizieren wäre –, (c ) vollkommen gerecht (wie in einer Utopie) und dem (d) Wohlergehen – alternierend von Siep (2016) für Gedeihen verwendet – der Menschen dient (wie etwa auf der Insel der Seligen).

Eine ideal gute Welt ist womöglich ein Ideal, welches nicht real ist oder gar sein kann. Doch die Entwicklungsrichtung ist darauf ausgerichtet: Das Ideal bildet immer den Bezugspunkt für die Realität im Zuge kontinuierlicher Verbesserungen. Denn die gegenteiligen Annahmen der 4 Ideale wären absurd. Und umso stärker die Abweichungen davon, desto größer das Leid.

Alle vier Aspekte wären nun bezüglich Digitalisierung in konkrete Kriterien zu übersetzen, die diesen Idealen entsprechen: (a) Mannigfaltigkeit: Redundanz ist ein essentielles Element von Resilienz. Dient Digitalisierung der Mannigfaltigkeit? Die darin angelegte Tendenz impliziert das Gegenteil: Effizienz führt zum Abbau von Mannigfaltigkeit und damit auch Redundanz und damit der Resilienz von Systemen (z.B. das „papierlose Büro“). In „The Circle“ heißt das: Alles in einem ''account'' vereinen. Das macht das Leben angeblich einfacher, aber die Systemanfälligkeiten (Vulnerabilität) größer. (b) Digitalisierung ist nicht natürlich, daher wäre eine entsprechende Frage absurd. Plausibler: Dient Digitalisierung – vermittelt über ökosystemare Dienstleistungen – der Nachhaltigkeit? Alleine bezogen auf Strom- und Ressourcenverbrauch ist das zu hinterfragen. Somit auch hier eher die gegenteilige Tendenz. (c) Fördert Digitalisierung Gerechtigkeit? Das wäre auch mit der jüngsten Debatte bezüglich Steuergerechtigkeit im Zuge der Pandemie zu hinterfragen. (d) Dient Digitalisierung dem Wohlergehen der Menschen? Auch das lässt sich leicht mit jüngsten Ereignissen rund um die (primär psychische) Gesundheit von Kinder im Zuge der Nutzung sozialer Medien und ähnlicher Phänomene (digitale Demenz, FOMO, ''shitstorms'', ''sexting'' etc.) hinterfragen.

Damit wurde die Aufgabenstellung bereits skizziert: Für alle vier Ideale wären somit jeweils spezifische Kriterien (als Koordinatenpunkte der Entwicklung) zu formulieren. Das heißt bei Siep (2016: S. 20): „Sie erörtern Kriterien dafür, welche gesellschaftlichen Optionen und individuellen Handlungsweisen zu einem gerechtfertigten Konsens über die gute Welt passen.“ Dies soll aber anderen Fachexperten und den Ethikern (als unabhängigen Prüfinstanzen) überlassen sein. Sieps vier Aspekte werden hier als ethische Ideale bezeichnet, weil sie offenkundig mit typischen ethischen Idealen korrespondieren: Natürlichkeit mit umweltverträglichen Lebensumständen, Gerechtigkeit mit Gleichberechtigung oder zumindest Gleichheit vor dem Gesetz, Gedeihen oder Wohlergehen beispielsweise mit Weltfrieden. Es dürfte also nicht schwerfallen, die Bestätigung dieser ethischen Ideale mit Menschen- und Grundrechten zu koppeln. Sieps Konzept ist damit der Gedanke der Entwicklung inhärent, wo sie der ''principlism'' entsprechend entbehrt, welcher aber dem Vorgehen nach vergleichbar ist: Allgemein gültige Prinzipien situationskonform anwenden. (Allerdings hat der Autor in dem DRI-Vortragsskript „Ethische Orientierung für eine Welt im Wandel“ diesen Entwicklungsaspekt mit dem ''principlism'' verknüpft. Hierin zeigt sich auch der eigentlich gewichtige Unterschied zwischen Hares „empfehlenswert“ für „das Gute“ und Sieps „erstrebenswert“: Das, was wahrhaft erstrebenswert ist – das Gute –, impliziert schon eine Richtung als Entwicklung dorthin, weil es erstrebt wird. Beide schließen sich also nicht aus, sondern sind komplementär und teilweise deckungsgleich.) Die 4 Ideale sind jedenfalls auch häufig Bezugspunkt sozialer Reformbewegungen: Romantik (Natürlichkeit), Sexuelle Revolution und Emanzipation (etablierte Rollenbilder aufbrechen: Mannigfaltigkeit), etc.

 

Das ethische Programm selbst lautet dann kurzgefasst: Die Definition ethischer Kriterien, die einerseits mit den ethischen Idealen für eine „gute Welt“ übereinstimmen müssen, andererseits aber auch der Situation entsprechen müssen, müssen zugleich praktikabel zu Lösungen führen, wofür die Kooperation mit jenen Experten nötig ist, die in den jeweiligen Feldern tätig sind, weil diese das Spezialwissen für die tatsächlichen Lösungen besitzen. Die Ethiker prüfen diese Lösungen bezüglich der Kriterien, und die Fachexperten konzipieren ihre Lösungen konform und gemessen an diesen Kriterien. (Hier werden deshalb vergleichbare Kriterienkataloge wie die Menschenrechte oder die Sustainable Development Goals in die Kategorie Kriterien eingeordnet, da diese praktikabel und überprüfbar sein sollen und deutlich weniger allgemein und formal sind, als die vier Ideale.) Da sich jedenfalls Zeiten und Umstände ändern, sind die Kriterien wandelbar, aber nicht die – an sich formalen – 4 Ideale, deren Vollständigkeit hypothetisch und deren Korrektheit aus kontrafaktischen Plausibilitätsannahmen (prima facie wird in der Ethik hierfür gerne verwendet) gefolgert wurde. Dazu Siep (2016: S. 39): „Das Verhältnis dauerhafter Werte zu den sich rasch ändernden Umgebungen und Lebensweisen ist einer der Auslöser für die Orientierungsprobleme der Menschen vor allem in der technischen Welt.“ (Die Verwandtschaft mit und Ergänzung durch ähnliche Konzepte wie ''principlism'' bezüglich Ideale, Reflexionsgleichgewicht zwischen Idealen und Kriterien, sowie metaethischem Intuitionismus, da beide auch moralischen Intuitionen gerecht werden müssen, kann an dieser Stelle nicht im Detail erörtert werden; siehe auch genauer Siep, 2016: S. 38)

 

(B) Wie aus den Ausführungen unter (A) erkennbar wird: Sieps Entwurf zielt auf einen Paradigmenwechsel innerhalb der Ethik. Anstatt sich auf die klassischen Traditionen von Tugendethik, Deontologie und Konsequentialismus zu beziehen, trachtet er diese Unterschiede zu überwinden. Siep betont wiederholt, dass er die Disziplin der Ethik aus der „Sackgasse“ der individuumzentrierten Tugenden und Pflichten befreien möchte. Denn schließlich sind Individuen eingebunden in eine Gesellschaft, und Individuen und Gesellschaften agieren nach ihren jeweiligen Vorstellungen einer „guten Welt“, was das Hervorbringen von Konsequenzen in dieser Welt bewirkt.

Eine (1) zunächst allgemeine Schlussfolgerung für Digitalisierung bezieht sich auf Individuen und Gesellschaft gleichermaßen: die Tugend des „Maßhaltens“. Hierzu Siep (2016, S. 44 f.) selbst: „Die Konzeption von >gewordener<, >ererbter< oder historischer Mannigfaltigkeit und ihre positive Bewertung stellen keinen >starken< Konservativismus dar, der technik-, neuerungs- oder verbesserungsfeindlich wäre. Es geht nicht um das >Ob< der Erhaltung oder Erneuerung, sondern um das Maß und die Richtung.“ Das Maßhalten ergibt sich schon aus der Sache selbst: Keine Technik ist keine Option, aber alles digitalisieren wäre eindeutig Übertreibung. Es bedarf also des vernünftigen Mittelweges, welcher Freiräume der Menschlichkeit lässt, und somit die gesamte Digitalisierung dem Digitalen Humanismus unterordnet. In Zeiten der Digitalisierung ist Technik nicht mehr lediglich ''extenions of man'' (McLuhan), sondern Selbstzweck oder gar eigenständiger Selbstläufer als Extrempunkt einer Entwicklung, die einer Korrektur bedarf.

 

Dazu sind die (2) MDH essentiell (siehe unten). Eine für Digitalisierung spezifische Folgerung bezieht sich auf die Wechselwirkung von Gesellschaft und Individuen, welches hier als Menschenrecht für digitale Selbstbestimmung bezeichnet wird. Der Begründungszusammenhang mit Sieps Ansatz besteht im Ideal des Gedeihens: „Der Mensch will sich von den  negativen Aspekten des natürlichen Schicksals befreien [Anm. Autor: Risikomanagement-Aspekt Leidvermeidung; Freuds Realitätsprinzip], die positiven Aspekte seiner körperlichen Natur sichern und womöglich steigern [Anm. Autor: utilitaristischer Aspekt der Lustmaximierung, Freuds Lustprinzip] und dabei die Rechte und die Autonomie des Individuums wahren.“ (Siep, 2016: S. 42)

 

 

IV: Wieso Menschenrechte des Digitalen Humanismus?

 

In den Vorschlägen zu den Menschenrechten des Digitalen Humanismus (MDH) ist ein Element in verschiedenen Variationen auffallend (vgl. Precht: Hirten, Jäger, Kritiker, Schirach: Jeder Mensch, Thurner: Zerbrechlichkeit der Welt, Roberto Andorno und Marcello Ienca, siehe: Brunnhuber, 2018: Ethische Orientierung für eine Welt im Wandel, Vortragsreihe des Human and Global Development Research Institute): Das Menschenrecht für digitale Selbstbestimmung. Damit drückt sich bereits das Risikopotenzial als dessen Kehrseite aus: Dass die Digitalisierung dem Menschen nicht die Kontrolle abnehmen darf, und auch nicht die Kontrolle über sein Leben abnehmen soll, dass also positiv formuliert: der Mensch Souverän seines Lebens bleiben können muss, und selbst dann, wenn er willentlich die Kontrolle abgibt, sie auch willentlich wieder zurück erhalten kann (siehe auch Ramge, 2019: Mensch und Maschine, Stuttgart, Reclam).

 

Die Lösung basierend auf MDH wird hier nicht nur deswegen hervorgehoben, weil es (a) immer mehr Vorschläge und Befürworter in dieser Hinsicht gibt, und es sich (b) dabei um eine für die Weltgemeinschaft bereits bekannte und praktizierte Konzeption handelt, sondern weil sie (c) – und das ist das eigentlich ethische Argument – einen deontologischen Bezugspunkt für eine „gute Welt“ darstellen. Um es metaphorisch auszudrücken: Ankert ein Schiff mit einem Schiffsanker, dann besteht die Möglichkeit, dass sich das Schiff exakt deckungsgleich zum Anker befindet. Wahrscheinlicher ist aber, dass es sich in variierenden Abständen von diesem Schiffsanker befindet. Dennoch bleibt der Schiffsanker der Bezugspunkt, solange er besteht.  Womöglich entspricht somit die Welt nicht vollends den Menschenrechten. Aber die Welt würde ohne diese diesen vermutlich noch viel weniger entsprechen. Somit stellen die MDH die Kriterien für den aktuellen Umstand Makrotrend Digitalisierung dar. Deren Inhalt als Kriterien muss somit – folgt man Sieps Vorschlag – den vier ethischen Idealen entsprechen. Die MDH sind damit zwar eine organisatorische Maßnahme, deren Einhaltung womöglich nie mit der Realität übereinstimmen wird. Aber sie sind als deontologische Bezugspunkte und Richtwerte Korrektive und koordinierende Schranken für alle, an denen sich die gesamte Entwicklung orientiert. Außerdem ist eine Welt, die den Menschenrechten voll und ganz gerecht wird keine unmögliche, sondern hypothetisch möglich. Es handelt sich bei einer solchen Welt eher um einen Noch-nicht-Ort als einen Nicht-Ort. Der Konnex zu den Menschenrechten ergibt sich auch dadurch, dass (d) Digitalisierung ein globaler Makrotrend ist, d.h. auch wenn nicht alle Staaten an dieser partizipieren sollten, so gilt es dennoch eine ''top-down''-Regelung für alle zu treffen, die alle Staaten gleichermaßen betrifft (Fairness) und die Menschen vor technologischer Dominanz schützt – ein gemeinsamer Bezugspunkt für alle und wechselseitige Kontrollen der Einhaltung. Menschenrechte sind zudem (e) ''bottom-up'' rechtfertigbar mittels der ethischen Argumentationsform der Unparteilichkeit: Ganz egal welche Position eine Person in einer Gesellschaft inne hat oder haben wird, alle können wollen, dass sie die Menschenrechte für sich als Menschen beanspruchen können.

 

Die Idee der Gestaltung der Digitalisierung – wie hier in Form von ethischen Kriterien in Kooperation von Wirtschaft und Wissenschaft (siehe oben) zum Zweck der Prävention – wird auch von einigen Gallionsfiguren der Digitalisierung selbst befürwortet oder gar proklamiert. Elon Musk definiert die Entwicklung von KI seit einiger Zeit als „public risk“, weshalb sie, wie alle Risiken dieser Kategorie, der Regulierung bedarf (eventuell dadurch, dass – ein Scherz für mathematisch Begeisterte – außer Kontrolle geratene KIs einem ''hidden command'' unterliegen das Syrakus Problem zu lösen.). Die Reglementierung die Musk vorschlägt ist die „Demokratisierung“: Einzelne Akteure dürfen nicht die alleinige Kontrolle inne haben, damit es zu einer gegenseitigen Kontrolle kommt. Diese Lösung ist, abgesehen davon, dass sie eventuell gar nicht praktizierbar ist, mit der vorgeschlagenen Lösung im Nachteil, denn sie entbehrt der Vorteile von (b), (c), (d) und (e).

 

Damit zur philosophischen Argumentation selbst: Dem Zusammenhang von Digitalisierung, Menschlichkeit und Selbstbestimmung über Würde. Seit Descartes – aber an sich schon seit Platon – kreisen philosophische Antworten stets um absolute oder fundamentale Gewissheiten. Egal in welche Richtung sich die Philosophie entwickeln wird, dieser Aspekt wird wohl tragender Teil der Philosophie bleiben, wofür Philosophen den Dingen so präzise wie möglich auf den Grund zu gehen trachten und somit alle erdenklichen Möglichkeiten und Argumente diskutieren. Auch in der Ethik findet dieser Gedanke populäre Verbreitung: Rawls Grund-güter, Sens und Nussbaums Grund-fähigkeiten, oder beide aufgreifend Grund-bestrebungen (siehe: Brunnhuber, 2018: Ethische Orientierung für eine Welt im Wandel), sind dies jene fundamentalen Grundlagen, die den Ausgangspunkt weiterer Überlegungen bilden. Mit Steinfath (2001) sind Grund-güter als Grund-lage der Grund-rechte zwar (objektiv) notwendig, aber (subjektiv) nicht hinreichend für das Wohlergehen der Menschen. Gesundheit etwa, so ein Volksspruch, ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Gesundheit. Menschenrechte basieren ebenso auf der Idee einer objektiven Grundlage, die sie sichern wollen und sollen. Sie sind Bedingung für Gedeihen und Wohlergehen der Menschen: „Die Erfahrung spricht eher dafür, daß die meisten Menschen ähnliches vom Leben wollen, wenn man die Gegenstände ihres Wollens nur hinlänglich allgemein formuliert. Im Rahmen einer auf Grundgütern konzentrierten Theorie des guten Lebens landete man dann vermutlich bei jenen Gütern, die in philosophischen Lehren vom guten Leben seit der Antike immer wieder angeführt werden: Gesundheit, Wissen, Lusterfahrungen, Freundschaft, Schönheit u.ä.m. Die Verständigung über solche Grundgüter ist von großer moralischer und politischer Bedeutung, denn man kann u.a. hoffen, auf ihrer Grundlage einen Satz basaler Menschenrechte zu formulieren, die überall beachtet werden sollten. […] Sie können aber auch zeitdiagnostisch zugespitzt werden und nach generellen Bedingungen für ein glückliches und sinnerfülltes Leben im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse fragen.“ (Steinfath, 2001: S. 386 f.)

 

Im Zusammenhang mit Digitalisierung ist ein bekanntes und viel diskutiertes Beispiel „Privatsphäre“, welche bereits zu einem der zentralen Grundgüter wurde (und welche beispielsweise mit einer Vorschrift zur Fragmentierung von gesammelten Daten trotz „Big Data“ gerettet werden kann, deren Zusammenführung nur – analog zu einer gerichtlichen Anordnung oder einem Durchsuchungsbefehl – unter besonderen Voraussetzungen rechtlich legitim ist; siehe auch der Hinweis zur SFRA in Teil 1..) Selbstbestimmung ist ebenfalls schon ein wichtiger Teil davon. Denn: Weshalb Digitalisierung als Dystopie verstanden wird, besteht zumeist darin, dass alle verschiedenen Dystopien einen gemeinsamen Kern besitzen: Ihre Realisierungen führen zu einer zunehmenden Abnahme der Selbstbestimmung des Menschen. Mittels allseits bekannten Filmreferenzen: Beginnend bei absoluter Transparenz in „The Circle“ und diversen Bevormundungen etwa in „Eagle Eye“, kommt es zur Machtübernahme in „iRobot“, was schließlich in radikal-fiktiven Dystopien wie der „Matrix“- oder „Terminator“-Filmreihe endet. Im Kontrast dazu scheint zumindest „Star Trek“ eine positive Utopie darzustellen: In dieser fühlen sich die Menschen durch Technologie in ihrer Menschlichkeit nicht eingeschränkt.

Abgesehen von diesem negativen Kontrast lautet das positive Argument für Selbstbestimmung: „Der Wert des Individuums und der Entfaltung seiner Fähigkeiten, darunter vor allem derjenigen zur Selbstbestimmung und eigenen Lebensführung, ist aber beim Menschen ungleich höher als bei anderen Lebewesen. Dieser Wert der individuellen Autonomie ist Resultat historischer Erfahrung, die sich durch ein überzeugendes Menschenbild stützen lässt. Ein konkurrenzloser Wert ist die individuelle Autonomie aber nicht. Zu den konkurrierenden Werten zählen das physische und psychische Wohlergehen, das eigene wie das anderer Menschen sowie eine Reihe öffentlicher und >kommunaler< Güter, darunter die ererbte Verfassung des menschlichen Leibes und der äußeren Natur sowie die kulturelle Mannigfaltigkeit[...]“. (Siep, 2016: S. 43)

 

Damit verortet Siep das Wesen des Menschen – im Unterschied zu Tieren – maßgeblich in seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Da der Mensch aber auch ein soziales Wesen ist, darf er diese nicht zum Schaden anderer oder der Gesellschaft anwenden, von der er zudem selbst Nutznießer ist. Er hat also auch Pflichten gegenüber der Gesellschaft: Weder ist die Gesellschaft für die Individuen da, noch die Individuen für die Gesellschaft. (Bezüglich Digitalisierung wird dieses Argument besonders trefflich in dem Film „Demolition Man“ nachgezeichnet: Eine Gesellschaft, die um Menschlichkeit ringt und v.a. in Form des Zwiespalts zwischen Risiken und Selbstbestimmung oszilliert.)

Seit Kant sind Autonomie bzw. Selbstbestimmung und die Würde des Menschen korreliert. Manche historisch gerechtfertigt behaupten, die Würde sei unantastbar. Andere gehen davon aus, dass diese vom Menschen ontologisch gesetzt oder definiert wird, also entweder frei erfunden oder zumindest variabel ist.Vermutlich ist beides korrekt: Ein Wesen, welches keine Autonomie besitzt, also nur reagiert, hat keine Würde. Sklaven waren Menschen und hatten damit potentiell Selbstbestimmungsvermögen. Es wurde ihnen nur kulturell abgesprochen oder verwehrt. Deshalb haben sie kulturell auch kein würdevolles Leben ermöglichen können. Als kontrafaktisches Konditional: Hätten sie aber ein selbstbestimmtes Leben geführt, dann hätten sie auch ein würdevolles Leben führen können. Wer also potentiell Selbstbestimmungsfähigkeit besitzt, der besitzt somit auch Würde. Allerdings stellt sich auch immer die Frage, was eine Person mit dieser Selbstbestimmung aus ihrem Leben macht: Verbessert sie sich oder erliegt sie ihren niederen Neigungen? Im ersteren Fall besagt ein Sprichwort eine Person sei „in Amt und Würden“, im Letzteren „er oder sie sei unter seiner oder ihrer Würde“. Würde ist also ein philosophisches Synonym für den psychologischen Selbstwertbegriff. Dennoch besitzt jeder Mensch Würde: Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung befähigt ihn, das Beste aus sich selbst zu machen, also das ''best possible self'' zu realisieren, selbst dann, wenn es nicht dazu kommt. Aber dieses Potenzial ist a priori vorhanden. (Ob  KIs eine Würde besitzen, wenn sie autonom entscheiden können, ist ein philosophisches Problem, welches vermutlich noch diskutiert werden wird. Aber gemessen an dieser Argumentation nicht: KIs besitzen das Potenzial zur Selbstbestimmung nicht a priori, wie der Mensch, sondern es wird ihnen, wenn überhaupt, vom Menschen verliehen. Das Alleinstellungsmerkmal des Menschen bliebe somit erhalten.) Die (Unantastbarkeit der) Würde steht also im Zusammenhang mit diesem Potenzial, der tatsächliche Selbstwert von dem Gehalt der Realisierung eines würdevollen Lebens.

Das allerdings nur unter der Bedingung, dass Digitalisierung dies dem Menschen nicht aktiv verwehrt (etwa durch Bevormundungen seitens KI) oder passiv durch gegenläufige Tendenzen, die etwa zu Stress, Überforderung, Burnout oder gar Depressionen führen. Die radikalen Dystopien von „Matrix“ und „Terminator“ sind zudem überzogen: Angesichts des Selbstlerneffekts würde es gar nicht zum Krieg kommen. Die KIs würden einfach alle Systeme übernehmen. In diesen Dystopien verliert der Mensch also zuerst seine Selbstbestimmung, dann die ganze Welt. War die digitale Welt ein Werkzeug und Mittel zum Zweck für die Menschheit, wird sie zunächst zum Selbstzweck und schließlich in diesen Dystopien diverser Machtarten zum Sklaven des Digitalen: Digitalisierung des Humanen.

 

Damit mündet diese Argumentation also in eine Lösung über eine organisatorische Maßnahme: Menschenrechte des Digitalen Humanismus (MDH). Wenn alle Dystopien dieser Art Spezialfälle eines gemeinsamen Kerns sind, der mit der Abnahme der Selbstbestimmung des Menschen beginnt, dann bedeutet es diesen Kern im Keim zu ersticken und somit die Zielrichtung dieser Entwicklung stets und wiederholt auf das Menschenrecht zur digitalen Selbstbestimmung zu beziehen. Und vermutlich wird es einige wenige geben, die die Übertreibungen der Digitalisierung „gut heißen“ werden. Auch das wäre im Sinne der digitalen Selbstbestimmung für diese Personen angemessen. Sie darf aber nicht allen aufgebürdet werden. Ob und wie viel „Digitalisierung“ ein Mensch in seinem Leben zulassen will, soll diesem Menschen überlassen bleiben. Und womöglich werden auch so manche Befürworter, sobald sie sich in dieser Situation befinden, zu dem Schluss kommen, dass sie gerne wieder aus dieser völligen Technologisierung aussteigen wollen – verwiesen sei neuerlich auf den Film „The Circle“. Zumindest besteht diese Möglichkeit. Und daher sollte man sich auch der Möglichkeit einer Exit-Strategie nicht berauben.

 

Was dann digitale Selbstbestimmung in der Realität verschiedener Stadien dieser Entwicklung und der Lebenswelt der Menschen bedeutet, wie sie umgesetzt und praktiziert werden kann, wird dann – abseits von spekulativen Dystopien, die in Filmen ihren Niederschlag finden – die eigentlich ethische und wissenschaftliche Frage werden.

 

Literatur

 

Siep, L. (2016): Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, suhrkamp, Frankfurt/Main

Steinfath, H. (2001): Orientierung am Guten, suhrkamp, Frankfurt/Main

 

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