Digitaler Humanismus oder Digitalisierung des Humanen

Digitaler Humanismus oder Digitalisierung des Humanen.

Teil 1: Ethik zwischen Utopie und Dystopie

 

von Robert Brunnhuber MSc

 

Wie der bekannte Philosoph Julian Nida-Rümelin in seiner Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele 2021 erklärte: Wir stehen aus mehrere Gründen an Scheidewegen der weiteren menschlichen Entwicklungsgeschichte. Neben dem Klimawandel – der mittlerweile zu jeder Aufzählung dieser Arten gehört, jedoch nur eines der großen Risiken des Anthropozäns darstellt – gehört dazu mittlerweile unzweifelhaft auch die Digitalisierung. Und wie auch Nida-Rümelin, der gemeinsam mit Nathalie Weidenfeld das Buch „Digitaler Humanismus“ verfasste, in seiner Rede betonte: Obwohl als Heilsgeschichte gedacht, steht die Digitalisierung im akademischen und intellektuellem Spektrum nicht selten mit dystopischem Denken im Zusammenhang.

 

I: Von der Utopie zu ethischen Idealen, oder: Entwicklung im Spannungsfeld von Ideal und Realität.

 

Utopien und Dystopien sind neuerlich relevante Denkkategorien geworden, wie auch Richard D. Precht dies einem breiteren Publikum im Zusammenhang mit Digitalisierung unterbreitete. Das ist angesichts weltweiter krisenbedingter Entwicklungen wenig verwunderlich. Gemessen am Begriff des „Ideals“ können diese beiden Extrempunkte menschlicher Entwicklung ethisch fassbar werden. Dystopien sind solche, weil sie radikale Abweichungen von einem „idealen ethischen Sollwert“ darstellen, dem Utopien genügen. Ethische Ideale, wie etwa Kants (2013: S. 74) „ewiger Friede“, steht hierfür als Paradebeispiel: Dieser sei „Hoffnung […] einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung […], keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die […] ihrem Ziele […] beständig näher kommt.“.

Solche Ideale, wie etwa auch eine vollkommen umweltverträgliche oder vollkommen gerechte Welt, sind Ideale, die die Richtung dessen vorgeben, was gut und richtig ist. Als Ideale werden sie vielleicht nie vollends erreicht, aber ohne diese Ideale „geht es auch nicht“. Diese Ideale sind notwendig, weil eindeutig feststellbar ist: Umso radikaler die Abweichungen, desto mehr Leid wird erzeugt, welches letztlich zu Neuorientierungen führt, die wieder diese, und nur diese Ideale im Blick haben, um erneut auf deren Verwirklichung zuzusteuern. Utopien sind somit „ideale Welten“, d.h.: Welten, in denen Ideale realisiert wurden. Bezüglich der Begrifflichkeit eine Klärung: Der Unterschied zwischen ethischen Idealen und „Werten“ liegt darin begründet, dass Werte kulturell variabel sind, sein können oder gar sein müssen: Sie sind abhängig von kulturellen Um- und Zuständen der Welt. „Fleiß, Ordnung und Sparsamkeit“ waren Werte der agrarischen oder protoindustriellen Gesellschaft. Was in einer Kultur von „Wert“ ist, muss es nicht in einer anderen sein. Ethische Ideale dagegen sind ethisch, weil sie überzeitlich gültig sind, und Ideale, weil sie ein Ideal eines perfekten Zustandes beschreiben. Ethische Ideale sind also in jeder Kultur „gut“, unabhängig davon, ob dies in einer Kultur realisiert wurde oder gar in einer solchen erachtet wurde. Werte sind also, auch wenn sie „gut“ sind, relativ, ethische Ideale sind es nicht.

 

Nagel (1999) liefert hierfür ein passendes Beispiel: Würde er in einer Kastengesellschaft leben, dann würde er womöglich dieses „Gesellschaftssystem“ als „gut“ erachten – oder auch zu überwinden trachten –, und eine Welt der Gleichberechtigung nicht, die er nur deshalb befürwortet, weil er selbst „Produkt“ einer liberalen Gesellschaftsordnung ist. Um seine Argumentation jedoch abzukürzen: Offenbar streben Menschen immer wieder in verschiedenen Gesellschaften nach Gleichberechtigung und Chancengleichheit, nach „Aufstiegschancen“, jedenfalls aber danach ein „vollwertiges“ Mitglied einer Gesellschaft zu sein. Ob das mit einer „voll digitalisierten Gesellschaft“ vereinbar ist, müsste noch gezeigt werden. Hier aber noch ein paar kurze Koordinatenpunkte für den Weg zur Utopie: (1) Nagel nimmt somit eine objektivistische Position in der Ethik ein. Das exakte Gegenteil, der Subjektivismus, führt sich laut Nagel jedoch selbst ad absurdum: Er müsste beweiskräftig zeigen können, dass keine ethischen Argumente objektive Gültigkeit besitzen. Anders: Er müsste verallgemeinernd erklären, wieso nur subjektive Urteile zulässig sind und objektive nicht. Ob Nagels Argumentation selbst überzeugend ist, soll hier nicht beurteilt werden. Dennoch ist die Annahme berechtigt, dass es objektiv „gute“ Tatsachen gibt, weil Menschen immer wieder danach streben, Missstände zu überwinden, und in Richtung der Realisierung ethischer Ideale voranschreiten, die laut Siep (2016) auch explizit als wahrhaft erstrebenswerte Tatsachen wissenschaftlich solide begründet werden können. Somit teilt Siep in seinem äußerst profunden Entwurf Nagels Auffassung. Sieps Argument erinnert zunächst an Richard M. Hares Übersetzung „empfehlenswert“ für „gut“, jedoch: Wenn etwas, das „gut“ ist, empfehlenswert ist, könnte ein solches Urteil noch Subjektivismus implizieren: Was in einer Kultur oder für eine Person als empfehlenswert gilt, gilt nicht in jeder Kultur oder für jede Person, oder ist gar abhängig von den konkreten Umständen. „Empfehlenswert“ ist also nicht zwingend „wahrhaft erstrebenswert“. Aber: Adäquate Lebensbedingungen gelten wohl in jeder Kultur für alle Menschen als erstrebenswert. Und vermutlich präferieren die meisten Menschen Strände mit einer Palmenlandschaft gegenüber den kargen Bergwelten Tibets. (Diese zunächst allgemeinen Aspekte werden noch hinsichtlich Digitalisierung konkreter, denn die Frage ist, ob die Welt, die uns die Digitalisierung verspricht, eine solche ist, in der die Mehrheit der Personen leben will. Das stellen zumindest gewisse dystopischen Zukunftsvorstellungen infrage. Wie dies aber dennoch gelingen kann, soll im zweiten Blogbeitrag genauer erläutert werden.)

 

Letztlich ist, so Siep (2016), immer die Vorstellung einer „guten Welt“ leitend. Die Frage dabei ist aber immer, ob dieses „Gute“ auch tatsächlich „gut“ ist. Um dies zu bewerten, bedarf es konkreter Kriterien, aber auch allgemein gültiger Urteile. Das ist Aufgabe der Wissenschaft, und damit Aufgabe einer Ethik als Wissenschaft, die ihre Annahmen, Begründungen und Schlussfolgerungen auch an der Realität überprüfen können muss. Hier wird nun Sieps „Konkrete Ethik“ konkret. Siep bedient sich hierfür der Methode des Reflexionsgleichgewichts nach Rawls: Einem Gleichgewicht zwischen verschiedenen Bereichen, welches nicht hergestellt werden müsste, wenn es schon bestehen würde, aber notwendig ist, und somit durch Reflexion gesucht, gefunden und hergestellt werden muss. Das Gleichgewicht bezieht sich bei Siep auf jenes zwischen Ethische Ideale, die objektiv begründet werden können, und ethische Kriterien gemessen am aktuellen Stand der Situation, die also bezüglich konkreter Situationen angepasst werden müssen. (Siehe weiter unten die Schiffsanker-Metapher.) Aufgabe der Ethik als Wissenschaft ist somit die Definition konkreter ethischer Kriterien gemessen an den Vorstellungen einer „guten Welt als einer wohlgeordneten Ganzheit mannigfaltiger Elemente, die eine faire Chance zu gedeihlicher Entwicklung“ (S. 34) bietet, wofür die Ethik mit den empirischen Wissenschaften zusammenarbeiten muss, so etwa mit der Ökologie, der Psychologie, aber auch – siehe unten – den Technologie-Experten. Vermutlich hat die Zeit der Krisen gelehrt, dass Krise ein temporär Zustand sein sollte, nicht die Regel. Will man also Krisen überwinden, benötigt man ein Koordinatensystem, um der Utopie „beständig näher zu kommen“, kein „anything goes“, welches letztlich womöglich in der Dystopie endet, weil man auf ein solches Koordinatensystem verzichtete.

 

Laut Siep (2016) sind für sich oder in Bezug auf das Ganze wahrhaft erhaltens- und erstrebenswerte Umstände: Mannigfaltigkeit – im Unterschied zu Monotonie –, Natürlichkeit, Gedeihen und Gerechtigkeit. Da diese Begriffe sehr allgemein sind, benötigen sie der inhaltlichen Konkretisierung und ihrer Übersetzung in Kriterien für aktuelle Situationen, wie etwa Digitalisierung oder den globalen Umweltwandel als Makrotrends. Diese vier elementaren Züge „destilliert“ Siep (2016, S. 30) jedoch als Konsens aus verschiedenen Vorstellungen einer „guten Welt“: „Das gilt natürlich auch für die konkreten >Ausmalungen< der guten Welt in Kosmogonien und selbst in Utopien, insofern sie die positiven Züge dieser Welt steigern und die negativen weglassen.“ Insgesamt zielt Sieps (2016) Entwurf auf die „Steigerbarkeit des Seins“ (Steinvorth), insofern die Entwicklung trotz bestehender ethischer Ideale offen ist: „Schließlich gehört zum guten Zustand der Welt, dass die lebendigen Individuen in ihr sich entwickeln und gedeihen können.“ (S. 29). Natürlich im Sinne einer „Orientierung am Guten“ (Steinfath). Obwohl sich Siep zum Platonismus distanziert, ist jedenfalls seine Auffassung von gut als „wahrhaft erstrebenswert“ durchaus im Sinne der platonischen Unterscheidung von Wahrheit und Meinung: Das, was letztlich alle als gut erfahren, ist gut, aber auch deshalb, weil ihm in Wahrheit ein tatsächlicher Wert zukommt: „Es ist >wert<, bejaht oder verneint, gesucht oder gemieden zu werden.“ (Siep, 2016: S. 31). Um auch diesen Aspekt noch zu konkretisieren nennt Siep (2016: S. 34) die Historisierung von Werten: „Die historische Erfahrung bestimmter Kulturen sowie der gesamten Menschheit - soweit sie sich in einem diskursiven Austausch über Weltbilder, Werte und Normen befindet – hat zu bestimmten Werten, Normen und Rechten geführt, die als unaufgebbar gelten und mit Prinzipien vor allem des zwischenmenschlichen Umgangs begründet werden. Dazu gehören die Prinzipien der Gleichheit gegenüber den Normen, vor allem den Rechtsregeln, der Freiheit von der Willkür anderer und zur Teilnahme an der Festlegung gemeinsamer Regeln sowie die in den Menschenrechten niedergelegten Prinzipien des wechselseitigen Respekts und der elementaren Kooperation und Solidarität.“ Der „Historische Wertewandel“ offenbart somit, dass sich zwar Werte ändern können, aber gewisse Einsichten daraus in bleibenden Werten verankert werden oder werden sollten. Dieses Argument zeigt somit, dass gewisse Werte wahrhaft bejahens- und erstrebenswert sind, von denen niemand vernünftiger Weise wollen kann, dass sie wieder aufgehoben werden.

 

Werte haben immer im Kontext ihrer Zeit ihre Berechtigung, aber gewisse Einsichten bleiben vom Zeitpunkt ihres Eintritts dauerhaft gültig. Steinfeith (2001) spricht in diesem Zusammenhang von Wertstandards: (2) Praktische Überlegungen dürfen nicht hinter bestimmte Standards zurückfallen, d.h. man misst seine praktischen Überlegungen immer an etablierten Wertstandards einer Gesellschaft. (Der Autor hat in „Mit Prävention in Richtung Zukunft?“ der DRI-Artikelreihe hier von ethischen Standards gesprochen, also Standards die ethischen Ansprüchen genügen, die vernünftige Personen haben können. Dabei handelt es sich metaphorisch um „Etappenziele“. „Wertstandards“ markieren somit ein „Etappenziel“ am Weg zum Ideal. Ein Rückfall wäre somit eine Rückentwicklung hinter einen bereits etablierten Standard. Denn „Werte“ (Ad: 2) können nun mit diesen Idealen (Ad: 1) übereinstimmen oder nicht. So haben auch Anhänger radikaler Weltauffassungen ihre Werte, die sie leben und verteidigen. Die Frage bleibt dabei aber immer, ob sie mit den wahrhaft erstrebenswerten Idealen übereinstimmen oder nicht. Wie beispielsweise die wechslungsreiche Geschichte des Imperium Romanum gezeigt hat, ist das „Oszillieren“ zwischen etablierten Werten und erstrebenswerten Idealen durchaus durchwachsen und komplex. Entwicklung geschieht somit im Spannungsfeld zwischen Ideal und Realität.

 

II: „Utopische Potenziale“ an Beispiele

 

Der Begriff „utopische Potenziale“ ist von Nida-Rümelin gut gewählt. Dabei ist der Terminus „Potenzial“ weniger kompliziert. Er definiert schlicht die Möglichkeiten, wie man zu dieser Utopie gelangt. Dabei sind bestimmte Anwendungen, die gegeben ein bestimmtes dominantes Weltbild selbst als utopisch erscheinen mögen, solche Potenziale. Dazu ein Beispiel: In der aller ersten Folge „Der keimfreie Planet“ der ersten Staffel der Serie „Sliders. Das Tor in eine fremde Dimension“ ist die gesamte Menschheit von einer Pandemie befallen. Allerdings: Als den Reisenden aus einer anderen Dimension („Paralleluniversum“) klar wird, dass diese Pandemie nur „verwaltet“ wird, indem die Lebenswelt der Menschen möglichst „keimfrei“ gehalten wird, aber nicht gelöst, weil – und das erinnert an Ignaz Semmelweis – in dieser Parallelwelt das Penicillin noch nicht entdeckt wurde, kann Prof. Arturo mit seinem Wissen aus „unserer Parallelwelt“ auf einfache Weise Penicillin herstellen, und diese Parallelwelt aus den Geiseln der Pandemie befreien – was auch an einen gewissen Asthmaspray in „der Pandemie unserer Welt“ erinnert: Eine einfache Lösung für ein scheinbar komplexes Problem. Das Beispiel ist fiktiv und dient lediglich der Distanzierung zur eigenen Situation, aber seine allgemeine Lehre lautet: Wenn es darum geht „utopische Potenziale“ zu erschließen, dann bedeutet dies für möglich zu halten, was noch nicht möglich erscheint, um letztlich Ideale zu verwirklichen, die noch nicht (U-Topie) realisiert wurden. Der weltbekannte (nicht nur) Schauspieler Arnold Schwarzenegger bringt in seinen Vorträgen, Statements und Reden häufig folgendes Zitat: Wenn jemand gesagt hat, dies sei unmöglich, habe ich gehört, es ist möglich. Dies sei an dieser Stelle hinzugefügt, denn angesichts eines Weltzustandes „multipler Krisen“ kann eine solche Botschaft durchaus pragmatischen Optimismus befördern.

 

Um ein allseits bekanntes historisches Beispiel in gleicher Thematik aufzugreifen: Skorbut war eine gefürchtete Krankheit in der europäischen Seefahrt vor der Moderne. Die Nahrungsergänzung von Vitamin C, welches aus diesem Grunde auch als Ascorbinsäure bezeichnet wird, da es Skorbut verhindert, hatte das Problem gelöst. (Das chinesische Kaiserreich soll dieses Problem lange vor der Anwendung von Zitronensaft auf europäischen Schiffen gelöst haben, nämlich mit an Bord gezogenen Sojasprossen.) Und apropos Asthma – ein individuumzentriertes Beispiel: Der russische Arzt Konstantin P. Buteyko hat eine nach ihm benannte Atemtechnik entwickelt, die als universales Hilfsmittel bei zahlreichen Zivilisationskrankheiten dient. Die Atemtechnik ist zwar simpel, aber nur unter gewissen Bedingungen zulässig und verlangt Ausdauer in der Anwendung. Aktuell in der Sportmedizin sind etwa die Herzratenvariabilitäts-Atmung, welche 4 bis 6 Atemzüge pro Minute vorsieht, sowie die beruhigende Vagus-Nerv-Atmung oder die 4-7-8-Atmung, die an die Zen-Atmung, beschrieben von Yuki Shiina, erinnert. Letztere soll auch das Immunsystem stärken, Erstere habe einen stressreduzierenden, weil wegen der Gleichmäßigkeit balancierenden Effekt.

 

In der Atemtherapie wird Atmung klassisch angewendet, um vor allem psychische Zustände wie Angst, Nervosität oder Depressionen zu lindern oder kurieren, aber auch Durchblutung, Verdauung, Immunsystem und Kreislauf in ihren organischen Funktionen zu stärken.  Diese Beispiele sollten hier nur im Zusammenhang mit „utopischen Potenzialen“ verdeutlichen: Atemmuster anzuwenden ist simpel und faktisch jederzeit jedem/r möglich. Einfacher geht es vermutlich nicht mehr. Die Einfachheit sollte aber nicht über ihre Effektivität hinwegtäuschen. Ob diese aber vorliegt, ist Aufgabe der Wissenschaft, dies zweifelsfrei zu beurteilen.

Die Essenz dieser Beispiele entspricht dem Schema der Anwendung des Solution-Focused-Risk-Assessment (siehe den Beitrag des Autors in der DRI-Vortragsreihe „Wie gelingt die Neuausrichtung einer Gesellschaft?“): Das erste Spektrum bildet alle denkbar möglichen Lösungen auf einer Skala von höchst wahrscheinlich sehr wirksam bis höchst wahrscheinlich unwirksam ab. Das zweite Spektrum kategorisiert diese Möglichkeiten entlang der Extrempunkte „sehr einfach in der Anwendung“ und „sehr kompliziert in der Anwendung“. Bevorzugt werden damit jene Lösungen, die einfach, aber effektiv sind.

 

An den Konsequenzen des „keimfreien Planeten“ wird deutlich erkennbar, dass ethische Ideale – zumindest theoretisch – nicht erreicht wurden oder gar werden können, solange eine Pandemie vorherrscht, und Menschen danach trachten werden, diese zu überwinden. Ethische Ideale, d.h. das, was Menschen als wahrhaft erstrebenswert erachten, bleiben stets die „Hintergrundfolie“ für Verbesserungen. Somit kann „Verblendung“ definiert werden als das Streben nach einem Zustand, der nicht-wahrhaft-erstrebenswerten Umständen entspricht, aber unter dieser Annahme operiert. Letztlich zeigt sich an den Konsequenzen, ob dieser Zustand erstrebenswert war oder nicht. Wie kann definitiv festgestellt werden, dass Kollektive einer Verblendung anhängen? In letzter Konsequenz an den Konsequenzen selbst. Und dies war im Laufe der Geschichte häufig der Fall. Woher kann also gewusst werden, dass der aktuelle „Zeitgeist“ nicht einer Verblendung unterliegt? Schließlich haben alle Entwicklungen Anfänge. Und zumeist ist dies an den Anfängen schwer zu erkennen? Umso deutlicher dies wird, desto weniger Spielraum bleibt für Korrekturen (Collingridge-Dilemma). Konsequenzen sind allerdings nicht das einzige Evaluations-Kriterium. An den Konsequenzen wird zwar unzweifelhaft erkennbar, wie stark von diesen Idealen abgewichen wurde oder wird. Und umso größer das Leid, desto stärker die neuerliche Hinwendung zu diesen Idealen. Andererseits aber sind diese Ideale im Denken des Menschen mittels moralischer Intuitionen selbst angelegt: Der Mensch kann gar nicht ethisch ohne sie denken (siehe auch in der DRI-Artikelreihe des Autors „Hans Küngs Vermächtnis“ und aus der Vortragsreihe „Ethische Orientierung für eine Welt im Wandel“). Damit lässt sich mit dem Ansatz nach Siep (2016) über ethische Kriterien die Verbindung von menschlicher (moralische Intuitionen) und globaler Entwicklung („gute Welt“) herstellen. Dies soll im Zusammenhang mit Digitalisierung nun noch genauer erörtert werden.

 

III: Die Relevanz eines Digitalen Humanismus.

 

Nach der Machart beurteilt ist der Film „The Circle“ (mit Emma Watson und Tom Hanks; nach dem Roman von Dave Eggers) dafür ein vortreffliches Beispiel: Dieser zeichnet, genauso wie George Orwells „Farm der Tiere“, den Hergang dessen nach, wie diese Verblendung erfolgt. Der Film würde schließlich in George Orwells „1984“ münden, würden sich diverse Protagonisten nicht gegen diese Entwicklung wenden. Allerdings zeigt der Film auch eindeutig die moralischen Intuitionen: Im Zuge der weiteren Entwicklung wird immer mehr Protagonisten deutlich, wie stark diese Entwicklung zunehmend von ihren eigenen moralischen Intuitionen abweicht, was sie aber auch an den Konsequenzen begreifen lernen, die sich schleichend einstellen. Schließlich können die Protagonisten diese nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren, und immer mehr Personen werden zu Abtrünnigen, ja wenden sich gegen diese radikale Technologisierung, der letztlich das Menschliche untergeordnet wird: Die Menschen fühlen sich mit dieser zunehmenden Technologisierung nicht mehr wohl, obwohl sie anfangs noch bejubelt wurde.

 

Der Film zeigt die Anfänge einer Entwicklung, in der schon deutlich die Neigung zur Übertreibung und die Überführung in die Dystopie deutlich werden. Der Film ist an manchen Stellen überzogen, doch dadurch werden die moralischen Intuitionen deutlicher erkennbar, nämlich: Dass die gesamte Entwicklung zunehmend in eine falsche Richtung geht, d.h. ethisch formuliert: nicht den ethischen Idealen entspricht. Selbstverständlich sind alle Schritte dieser Entwicklung mit „guten Absichten“ bedacht, sowie rationalen Argumenten schlüssig argumentiert. Der Film demonstriert damit nach dieser Machart genial die „zwei Schichten“ der Entwicklung: Während die rationalen Argumente nachvollziehbar und verständlich werden, wird dem Publikum aber bei jedem Schritt – natürlich auch musikalisch untermalen – die Diskrepanz oder der Widerspruch zu den moralischen Intuitionen eindrücklich „vor Augen geführt“, die jemand in dieser Situation hätte, aber auch „verdrängen“ kann, weil man einer Vorstellung von einer Welt anhängt (siehe oben zu Siep, 2016), die aber letztlich von den besagten Idealen immer mehr abweicht: Umso stärker die Abweichung von diesen Idealen also, desto deutlicher die moralischen Intuitionen. Allerdings kommt der „weisheitliche“ Faktor der Selbstdistanzierung ebenfalls ins Spiel: Der Zuseher, die Zuseherin beurteilt dies aus einer „Dritten-Person-Perspektive“, die diese Entwicklung nicht miterlebt, sondern als „Außenstehende“ beurteilt, als unabhängiger Beobachter des Filmgeschehens. Deshalb wird dem Zuseher auch klar, dass die Übertreibung längst erfolgte, wo es eine Person, die mitten in dieser Entwicklung steckt, nicht so beurteilen würde oder müsste, denn für sie handelt es sich um einen Zustand der „Normalität“.

 

Im mittleren Teil wird dem Publikum spätestens bei der Einführung der Doktrin der absolute Transparenz untrüglich klar gemacht, „wohin die Reise geht“. Die Übertreibung wird letztlich an mehreren Argumenten erkennbar, die dem Argumente der schiefen Ebene entsprechen (''slippery slope argument''), d.h. man wird dazu gebracht, weitere Schritte der Argumentation zu akzeptieren, sobald der erste Schritt erfolgte. Die letzte Schlussfolgerung hat in solchen Fällen dann aber nur noch eine entfernte Verwandtschaft mit dem ersten Schritt. Dieses Argument in „The Circle“ lautet: Anderen Menschen seine eigenen Erfahrungen vorenthalten zu wollen sei gleichbedeutend damit, sie zu berauben. Diese Schlussfolgerung wird wohl niemand, dem die einzelnen Schritte dieser Argumentation unbekannt sind, zustimmen. Die eigenen Erfahrungen sind privat und können, aber müssen nicht geteilt werden. Und die Art der Teilung ist eine Frage der individuellen Selbstbestimmung. Aufgabe der Philosophie ist es unter anderem solche Argumente auf ihre Gültigkeit hin zu prüfen. Und Raub ist per definitionem eine Angelegenheit, wo sich eine Partei X gegen den Willen einer Partei Y eine Entität der Partei Y aneignet. Somit müsste Raub so definiert werden, dass allen eigentlich schon alles gehört, aber dieses Vorenthalten damit Raub ist. In dieselbe Kategorie gehört somit auch das ebenfalls vorgebrachte Argument „Geheimnisse sind Lügen“.

Das Interview zum „Hirn-Video“ wird als Beitrag zur Menschlichkeit tituliert, aber am Ende – das kündigt die abweichende Filmmusik schon an – wird erkennbar, dass die Versprechen Versprechen bleiben: Weil es (1) den moralischen Intuitionen widerspricht, weil (2) die induktive Logik erklärt, dass die Geschichte der Menschheit stets zur Manipulation, Kontrolle, Machtmissbrauch und Korruption tendiert – weshalb es auch der institutionellen Reglementierung bedarf –, was auch in diesem Spielfilm ein Problem darstellen, sowie (3) weil die gesamte Entwicklung in „The Circle“ den aktuell vorgeschlagenen Menschenrechten des Digitalen Humanismus (MDH) widerspricht. Schließlich geht die Interview-Szene in die Anfangsszene von George Orwells 1984 über. Die Kehrseite dieser vorgeblichen Menschlichkeit wird somit spätestens in den folgenden Szenen offenkundig.

 

Fazit: An der Stelle des Interviews wird der Kontrast zu den vorgeschlagenen Menschenrechten des Digitalen Humanismus (zuletzt Ferdinand Von Schirach in „Jeder Mensch“) deutlich: Der Film hat somit als Kontrastfolie die Menschenrechte des Digitalen Humanismus. Und er überzeichnet das Gegenteil um somit deren Plausibilität zu demonstrieren, bevor eine solche Entwicklung eintritt, vor der die Menschenrechte des Digitalen Humanismus schützen wollen und sollen.

 

Zitierte Literatur:

 

Kant, I. (2013): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Reclam, Stuttgart

Nagel, T. (1999): Das letzte Wort, Reclam, Stuttgart

Siep, L. (2016): Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, suhrkamp, Frankfurt/Main

Steinfath, H. (2001): Orientierung am Guten, suhrkamp, Frankfurt/Main

 

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