Wie aus der Not eine Tugend wird

Von Robert Brunnhuber MSc (DRI)

 

Das chinesische Schriftzeichen für „Krise“ bedeutet zugleich Chance. Eine Krise ist dann aber keine Chance, wenn lediglich der Ausgangszustand wiederhergestellt werden soll. So ist eine Krise bloß eine unangenehme Komplikation, die die Beibehaltung des Ist-Zustandes stört, was aber zugleich ein Bekenntnis dazu ist, dass es keinerlei Verbesserungen bedarf. Dass eine solche Sichtweise unzulänglich ist zeigt der Gang der Weltgeschichte, welcher eine augenscheinliche Entwicklung erkennen lässt, und zwar von „unmenschlichen“ Zuständen, also solchen, die es den Menschen nicht erlauben ihr Mensch-Sein zu leben, zu menschlicheren. Somit lässt sich ein inhärentes Ziel der Menschheitsgeschichte (Jaspers)  – zumindest rudimentär – verorten. 

 

Da in der Regel aber immer Missstände bestehen, können Krisen zugleich genutzt werden, um mehrere Missstände zugleich zu beheben, weil ohnehin der Normalzustand ungewollt verlassen werden musste. Diese Einsicht wurde auch als Volksweisheit „Aus der Not eine Tugend zu machen“ tradiert. 

 

In dem Beitrag „Das Ziel ist das Ziel. Wie aus der Not eine Tugend wird“ [1] wird daher auch eine strukturelle Perspektive von kurz-, über mittel- bis langfristig entworfen. Dies soll vorab mit einem kurzen Beispiel verdeutlicht werden: Jüngst wurde immer wieder die Meinung vertreten, dass wir, die Menschheit, mit dem Virus SARS-CoV-2 leben werden müssen. Diese Meinung stellt aber eine Momentaufnahme dar, die im Zuge der Verbesserungen im Verlauf der Menschheitsgeschichte Entwicklungspotenziale unberücksichtigt lässt. Sie ist aber auch gemessen daran, dass etliche Forschungsteams rund um die Welt an einer Lösung arbeiten unwahrscheinlich: Solange die Möglichkeiten noch nicht bekannt sind, kann auch keine valide Schlussfolgerung gezogen werden.  Um daher zu verdeutlichen, dass diese Meinung einen induktiven Fehlschluss darstellt, werden 3 vielversprechende Beispiele ausführlich diskutiert, die solche Entwicklungspotenziale anzeigen, und sich bereits schon jetzt im Forschungsstadium befinden. Eines dieser Beispiele ist ein neuer Ansatz über Zuckermolekül-Rezeptoren, der gerade am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der Universität Graz intensiv erforscht wird. Dieser hat nicht nur das Potenzial die Infektiösität dieses spezifischen Virus zu beseitigen, sondern simultan gleich mehrere Gesundheitsrisiken zu bannen. Damit würde aus der Not eine Tugend werden. (Link: https://news.uni-graz.at/de/detail/article/forschung-foerdern/)

 

Doch im Moment ist ein anderes Beispiel von größerer Priorität: Wie flexibel auf die Krise reagiert werden kann, um ihr Gefahrenpotenzial zu entschärfen. Zu diesem Zweck wird eine Möglichkeit ausführlich diskutiert, die in den Bereich der Virus-Blocker-Optionen fällt. Es wurden mehrere Virus-Blocker-Optionen seit dem Beginn der Pandemie in den Raum gestellt. Eine Auswahl dieser wurde mittels folgender Heuristik nach verschiedenen formalen Kriterien untersucht:  ''One-bounce rule'' (Hey, 1982)[1]:

 

''Continue searching (e.g., for prices) as long as options improve; at the first downturn, stop search and take the previous best option.''

 

Deshalb sind Virus-Blocker-Optionen auch entscheidend im Wettlauf mit der Zeit. Die Festlegung der Maßnahmen selbst ist aber Sache des Konsens der Fachexperten. Da aber die beiden Maßnahmen Abstandhalten und Masken vermutlich weiterhin entscheidend sein werden, werden diese jeweils mit spezifischen Human Factors in Einklang gebracht. Wie die Human Factors Forschung schon lange erkannte, ist  „fehlenden Achtsamkeit“ eine Fehldiagnose, denn es sind zahlreiche Human Factors involviert, also bewusste und vor allem unbewusste Einflussfaktoren. Da aber Human Factors nicht nicht involviert sein können, also immer involviert sind, ob absichtlich oder nicht, ist es essentiell sie aktiv zu involvieren. Und dahinter steht ein ethischer Gedanke: Die Anwendung erfolgt absichtlich, und was absichtlich erfolgt, kann auch ethische reflektiert werden. Was unabsichtlich erfolgt ist der bewussten Reflexion nicht zugänglich und führt in der Regel zu ungewollten Nebenwirkungen. Das kann an einem einfachen Beispiel demonstriert werden: Hände waschen. In einer Studie wurde untersucht welche Textnachricht am ehesten dazu animiert, dass sich eine Person tatsächlich die Hände wäscht. Das Ergebnis zeigte klar, dass für Frauen wie Männer jene Textnachricht, die über kulturelle Normen reflektieren lässt, die wirkungsvollste war, noch vor allen anderen Human Factors. Diese Fragen wurden (wie auch andere) in Toiletten in UK angebracht und mit dem tatsächlichen Verhalten verglichen. Eine solche Methode erscheint auf den ersten Blick als Nudging, ist sie aber deshalb nicht, weil nur die Frage gestellt wird, die zur Eigenreflexion anregt: bezüglich der geltenden Maßstäbe in der Herkunftskultur. Offensichtlich korrespondiert dies mit einem Wert: Hygiene und Sauberkeit sind wichtig. Der Mehraufwand des Händewaschen wird daher durch einen kulturellen entmachtet. Und die Studie verfolge letztlich ein ethisches Ziel: ''Knowledge about the basic motivators of hand washing in the general population, and how they may vary between different groups, is vital for the development of effective handwashing campaigns aimed at controlling the spread of diseases such as pandemic influenza.'' (Judah et al., 2009: 410) 

 

In diesem genannten Sinne wird in dem Beitrag Brunnhuber (2020) auch auf die geltenden Maßstäbe unserer Kultur hingewiesen: dem christlichen Gebot der Rücksichtnahme auf den Nächsten. Ethisch bemerkenswert ist, dass diese Krise primär immer „vom Nächsten“ ausging, weniger vom Eigenschutz, so als würde die Krise an das christlich-kulturelle Erbe erinnern wollen. Die Aussage „zeigt sich im Umgang mit den Schwächsten“ trifft also vollends zu: Diese Krise zeigt, ob wir als Gesellschaft dazu in der Lage sind, das Gemeinwohl temporär über das des Eigennutzens zu stellen. Die Lösung über Human Factors ist daher eine solche, die von allen zwar etwas Mehraufwand erfordert, aber in Summe einen großen Beitrag leistet. 

 

Weniger religiös bedacht korrespondiert die Situation zudem mit zwei Nenngrößen des Aufklärungsideals: Vernunft und Toleranz. Vernunft diesbezüglich, dass Human Factors – die es nun einmal gibt, ob man zustimmen kann oder nicht – ethisch-vernünftig angewendet werden; Toleranz insofern als unliebsame Maßnahmen temporär toleriert werden. Toleranz zeichnet sich gerade dadurch aus, dass etwas akzeptiert wird, was man nicht explizit befürwortet. 

 

Um Eigenreflexion mit Vernunft und Toleranz kohärent zu verbinden, eignet sich der Vorschlag des Ethikers Richard M. Hare zur intrapersonalen Abwägung. In der Regel haben zwei verschiedene Parteien auch verschiedene Interessen bzw. Präferenzen, die im Konflikt miteinander stehen. Wenn aber beide konfligierenden Interessen/Präferenzen gleichzeitig „meine eigenen“ wären, welchen würde „ich“ den Vorzug geben? Die Antwort darauf ist Ergebnis der Eigenreflexion. Die Frage alleine reicht, um die Eigenreflexion zu aktivieren. Auf diese Weise des Perspektivenwechsels, so meint Hare, wären die Weisen zur Tugend gelangt: Sich an die eigenen moralischen Urteile, die aus dieser Eigenreflexion folgen, auch zu halten, wenn man physisch und psychisch dazu in der Lage ist.  Wie kann daraus Gemeinschaftssinn entstehen und ein „Gefühl“ für verbindende Werte? Wenn es stimmt, dass alle Personen gewisse moralische Intuitionen gemeinsam haben (Metaethischer Intuitionismus), dann lassen sich mit dieser Abwägung womöglich leichter konfligierende Interessenlagen schlichten. Jedenfalls findet sich Hares intrapersonale Abwägung, so simple sie erscheint, in einigen komplexen Konzepten (speziell den Wirtschaftswissenschaften) zur Schlichtung von Interessen wider. Allerdings ist die Methode auf die Gegenwart beschränkt. 

 

Die Kernaussage für die Zukunft besteht jedoch darin, dass es unabdingbar ist, dass eine konstruktive Sichtweise entwickelt wird, die es auch erlaubt mit dieser Krise konstruktiv umzugehen. Es ist eine erwiesene Tatsache diverser psychologischen Studien zu ''Coping'', dass Personen ihre persönlichen Krisen dann optimal bewältigen, wenn sie zu einer Sichtweise finden, die für sie persönlich konstruktiv ist. Diese Form des Framing-Effekts wird als kognitive Neubewertung/Umstrukturierung bezeichnet. Wenn es keine Möglichkeit gibt die Situation selbst zu ändern, so erklärten schon Tobin et al. (1989), dann besteht der einzige Weg, die psychische Integrität zu bewahren darin, die Sichtweise zu ändern. Doch eine konstruktive Sichtweise gibt auch Kraft und Motivation für den nächsten Schritt. Ziel ist es, eine angemessen Deutung zu finden, aus der heraus Kraft für die Bewältigung der Krise gewonnen wird: ''I reorganized the way I looked at the situation, so things didn't look so bad.'' (Tobin et al., 1989)

 

Da es unmöglich ist nicht zu „framen“, stellt sich nur die Frage welcher Rahmen für eine Erzählung gewählt wird: eine konstruktive, oder eine die Umstände nur verschlimmernde destruktive. Für Einzelpersonen hat sich in der Positiven Psychotherapie (Peseschkian) die Nutzung von Gegenkonzepten als erfolgsversprechend erwiesen. Solche sollen nicht die Ausgangsbasis ersetzen, die zumeist eine negative Sichtweise darstellt. Denn diese ersetzen zu wollen, würde beim Patienten nur noch mehr Widerstand erzeugen, wenn er dazu unfähig ist, von seinen alten Ansicht loszulassen. Dem Bestehenden dagegen ein Gegenkonzept hinzufügen, welches dieses relativiert, sodass aus dieser Ergänzung, Synthese oder gegebenenfalls diesem Widerspruch eine neue, positivere Sichtweise generiert werden kann, ist der Schlüssel zur Überwindung einer Destruktiven. Sinnsprüche und Volksweisheiten sind für solche Gegenkonzepte ein Beispiel. Volksweisheiten, die aus dem Volk stammen und von allen zumeist gekannt werden, sind deshalb ein hilfreicher Ansatz, da unsere Gesellschaft von Widersprüchen durchdrungen ist. Das bedeutet bezogen auf die aktuelle Krise, dass die zahlreichen Nachteile nicht geleugnet werden sollen, aber dass die Vorteile und die Chancen, die sich hieraus ergeben haben, auch nicht kleingeredet werden dürfen. „Aus der Not eine Tugend machen“ ist eine solche Volksweisheit, die es ermöglicht mit diesem Widerspruch konstruktiv umzugehen. Da seit Hans-Georg Gadamer bekannt ist, dass auch Gesellschaften den Ereignissen ihrer Geschichte einen Sinn verleihen, den sie selbst finden müssen, was auf ähnliche Weise auch Hayden White in seiner Wissenschaftstheorie der Geschichte herausgearbeitet hat, dass jegliche Geschichtserzählung keine bloße Reihung von Fakten ist, sondern diese Reihung unter einem Narrativ organisiert wird, welches in der Realität da draußen nicht gegeben ist. Fakten sind niemals ohne Deutung ihrer Bedeutung. Es ist die Aufgabe einer Gesellschaft, eine solche Sinn-Struktur zu finden, die die Gesellschaft ihr verleiht. Die Frage ist nur: Welche Sinn-Struktur wird die Erzählung der Krise dominieren? Eine konstruktive? 

 

Abschließend wird daher eine langfristige Entwicklungsperspektive entworfen, die sich am FIT-Prinzip nach  Remo H. Largo orientiert, mit welchem die beiden interagierenden Seiten der menschlichen und globalen Entwicklung auf einen Nenner gebracht werden. Während die klassische Umweltpsychologie die Psyche des Individuums im Kontext, also seinem unmittelbaren Umfeld, untersucht, erweitert Largo seinen Blick auf die Wechselwirkung bis zum äußersten Rande der Gesellschaft, inklusive des großräumigen kulturellen Umfeldes, in die es eingebettet ist. Dieses tatsächlich empirische Prinzip – ungleich zu so manchen anderen als Prinzip bezeichneten Ideen –, präsentierte Largo in seinem Werk „Zusammen leben. Das FIT-PRINZIP für Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur“ im Zeichen der Corona-Krise für die Proklamation einer Entwicklungschance. Er zeigt in seinem bahnbrechenden Entwurf kohärent, wie die verschiedenen Komponenten einer gelungenen Entwicklung für eine menschliche Gesellschaft aussehen können und sollen. Das Prinzip besagt, in einer verkürzten Form, dass jeder Mensch danach strebt mit sich selbst und seiner Umwelt im Einklang zu leben. Das mag zunächst banal wirken, doch die empirische Komplexität dieses Gedankens beinhaltet die gesamte Entwicklungspsychologie eines Menschen, seines Innenlebens und seiner Beziehung zur Außen- und Mitwelt durch alle Sphären der Gesellschaft. Empirisch liefert das Prinzip eine äußerst komplexe Grundlage („Bauplan“) für die Gestaltung der Gesellschaft und somit auch einen überzeugenden Kandidaten für jenes langfristige Ziel, welches das Ziel ist. 

 

Zitierte Literatur

  1. Brunnhuber, R. (2020): Das Ziel ist das Ziel. Wie aus der Not eine Tugend wird (anlässlich der Corona-Krise), Vortragsreihe des Human and Global Development Research Institute (DRI), Wien, 2020
  2. Hey, J. D. (1982). Search for rules for search. Journal of Economic Behavior and Organization, 3, 65–81. 
  3. Judah, G. et al. (2009): Experimental Pretesting of Hand-Washing Interventions in a Natural Setting,  American Journal of Public Health, 99/S2, 405-411 
  4. Lamas, M. et al. (2020): Is povidone iodine mouthwash effective against SARS‐CoV‐2? First in vivo tests, Oral Diseases. 2020;00:1–4, DOI: 10.1111/odi.13526 
  5. Mukerji, N., Mannino, A. (2020):  Covid-19: Was in der Krise zählt. Philosophie in Echtzeit, Reclam
  6. Tobin, D. L., Holroyd, K. A., Reynolds, R. V., & Wigal, J. K. (1989): The hierarchical factor structure of the CopingStrategies Inventory. Cognitive Therapy and Research, 13(4), 343-361 [1]

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