Ein Schritt zurück, zwei nach vorne.

Ein Schritt zurück, zwei nach vorne.

 

Die „Logik“ des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, Teil 1

 

von Robert Brunnhuber, BA, BA, MSc (DRI)

 

Krisen sind tatsächlich Chancen. Zumindest behaupten das John Kotter und Holger Rathgeber (nomen est omen) in ihrem Ratgeber-Werk „Das Erdmännchen-Prinzip“: Aus Krisen als Gewinner hervorgehen. Das Buch definiert kein eigentliches Prinzip (im strengen wissenschaftlichen Sinne), sondern bemüht eine Fabel: In einer bebilderten Kurzgeschichte wird porträtiert, wie ein Clan von Erdmännchen es schafft, trotz plötzlich auftretender, unerwarteter und teilweise nie dagewesener Probleme (Dürre, Sandstürme, neue Raubtiere, …) am Ende dennoch zur Prosperität zu gelangen. Die Anzeichen dafür waren aber wenig vielversprechend. Die gut etablierte Organisationsstruktur des Ursprungs-Clans funktionierte unter den bekannten Umstände optimal: Über eine längere Zeit hinweg lieferten Pläne, Regeln, Maßnahmen, Verfahren und Kennzahlen – (deontologisch) diszipliniert befolgt –  die Erfolgsformel für einen „gut funktionierenden“ Clan. Doch angesichts der neuen Probleme scheiterte dieses Vorgehen nicht nur, sondern das Festhalten an erstarrten Regeln verschärfte die Probleme nur noch mehr. Erst als zwei Erdmännchen in völliger Verzweiflung ihren Clan verließ, weil dieser zum Untergang verurteilt schien, und nach einer „Rundreise“ anderen Clans mit verschiedenen Organisationsformen begegneten, konnten sie – nach erfolgtem Perspektivenwechsel und neuen Sichtweisen – Erkenntnisse gewinnen, die sie zum Ursprungs-Clan mitnahmen. 

 

Mit dieser Geschichte wollen die Autoren jenes Organisationsmodell der Unternehmensberatung Kotter International am fiktiven „Fallbeispiel“ erklären, welches einen Unterschied zwischen Management (Verwaltung des Etablierten; Bewahren des Bewährten) und Leadership (Leitung und Ausrichtung zu Neuem und Anpassungen) einführt, die im Regelfall in einem scheinbar widersprüchlichen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Beides wäre falsch: Sowohl das Bewährte vernachlässigen und das Neue verherrlichen, oder umgekehrt. Können diese aber in einer klugen Symbiose kombiniert werden, erlaubte es dem Ursprungs-Clan sich von innen heraus zu verändern, und Problemen mit Innovationen begegnen. Das konkrete 8-Phasen-Modell wurde für Unternehmen entwickelt. Dessen Korrektheit soll deshalb hier nicht beurteilt werden. Aber die Parallele mit dem Clan ist augenscheinlich nicht nur eine zu einem unternehmerischen Betrieb, sondern auch zur Gesellschaft als solcher, um „die Herausforderungen und Gefahren des 21. Jahrhunderts in faszinierende Chancen umzuwandeln“ - eine treffliche Kurzformel für Entwicklung. 

 

Die Geschichte dient vordergründig dem Zweck, dass sich die Leserschaft in die Rollen versetzen können soll, um nicht bloß abstraktes Fachwissen „aufzusaugen“, sondern vom problematischen Ausgangszustand bis zum Erfolg die einzelnen Konflikte und Hürden nachvollziehen zu können.  Lehrreich wird die Geschichte aber nicht bloß durch das Nachvollziehen der Innenperspektive, sondern das Einnehmen einer Außen- oder Metaperspektive als „unbeteiligter Beobachter“. Während der Ursprungs-Clan unhinterfragt der „Default Heuristik“ (''If there is a default, follow it'') folgt, weil sie einfach nicht wissen, was sie sonst machen sollen, obwohl dies offensichtlich zum Kollaps führen würde, suchen die beiden vagabundierenden Erdmännchen nach neuen Ideen im Umgang mit diesen Krisenfaktoren – und wurden fündig. Eine gleichartige Folgerung der HRO-Theorie (vgl. Brunnhuber, 2018) lautet: Regeln ständig daraufhin zu prüfen, ob diese noch zweckmäßig sind, anstatt blindlings davon auszugehen (vgl. Kotter/Rathgeber, 2017: S. 120 ff.). Eine Anleitung dafür findet sich in dem einschlägigen Buch „Practical Loss Control Leadership“ nach Bird et al. (2003). In diesem an Methoden und Maßnahmen reichlich vollen Buch, merken die Autoren gleich zu Beginn an, dass eine solche „kritische Selbstbefragung“ von wesentlicher Relevanz ist, da berechnende und formale Risikobeurteilungen bei der Menge an Risiken, die je nach Situation verschieden relevant sein können,  nicht ausreichen. Deren Anleitung für „einfache Risikoeinschätzung“ lautet in 5 Fragen (übersetzt nach Bird et al. 2003, S. 26): Wieso mache ich das überhaupt (auf diese Weise)? Was kann schief gehen? Wie kann die Tätigkeit mich oder andere beeinträchtigen? Wie wahrscheinlich kann etwas Negatives geschehen? Was kann ich zu mehr Sicherheit direkt beitragen?

 

Selbstverständlich: Philosophisch betrachtet liegt es auf der Hand, dass Gesellschaften aus Regeln bestehen. Reduktionistisch sind Gesellschaften nichts anderes als ein Regelwerk für Verhalten und Organisation. Das ist banal: Eine Gesellschaft gänzlich ohne Regeln – das gilt sogar für anarchistische Modelle – ist nicht möglich. Die Frage ist jedoch, wann diese noch sinnvoll sind.

 

Schließlich gelingt dem Clan die eigentliche Herausforderung zu bewältigen, was, um der Einfachheit wegen, als die drei K zusammengefasst werden kann: darüber kommunizieren, ermöglicht kooperieren und letztlich koordinieren – wiewohl für Kooperation ein Wille, für Koordination die Möglichkeit und Disziplin bestehen muss (vgl. Kotter/Rathgeber, 2017: S. 83 ff., v.a. 86). Nach der Theorie der Gruppenentwicklung von Tuckman (1965) durchläuft gelungene Kooperation i.d.R. zuerst die Phasen Forming (Orientierung) und anschließend Storming (Konflikt), bevor mit der Norming-Phase (Stabilisierung) zur Arbeitsphase Performing übergegangen werden kann (siehe: Kotter/Rathgeber, 2017 S. 117 ff.).

 

Welche Folgerungen zog als der „entwickelte“ Clan? Zwar sind die präsentierten Ideen der Erdmännchen-Metapher nicht oder nur bedingt auf menschliche Gesellschaften übertragbar, aber im Sinngehalt durchaus vergleichbar: (1) So ist eine der fiktiven Innovationen eine Larvenfarm, was im Zusammenhang mit einer anhaltenden Dürre Nahrungssicherheit bietet, zusätzlich zur ersten ad-hoc-Maßnahmen des Essensteilen (ein „fairer“ Gedanke). Im Zuge des Klimawandels und zunehmender Wetterextreme wäre dies im Falle menschlicher Gesellschaften etwa die multifunktionalen Vorteile einer Agroforstwirtschaft. (2) Ein zweites Beispiel lautet, kranken Erdmännchen-Kindern Kuscheltiere zu geben, weil diese dadurch schneller genesen. Ein Kausalzusammenhang der tatsächlich vorliegt, aber von keinem Erdmännchen erklärt werden kann, weil sie keine Theorie dazu haben, aber das Phänomen existiert. Im menschlichen Fall etwa wurde dokumentiert, dass Personen, die während eines Krankenhausaufenthalts einen Baum durch ihr Fenster sehen können, schneller genesen, oder das begrünte Städte zu einem reduzierten Aggressionspotenzial und weniger Verbrechen führen, weil Begrünung die Psyche des Menschen besänftigt – einfach, aber verblüffend (und nicht zwingend offensichtlich). 

 

Diese Beispiele sollen genügen, um die Grundidee zu verdeutlichen. Nimmt man diese Erkenntnisse zusammen, so lautet die „Logik“ der Entwicklung (des formal Schlusses übertragen von fiktiven Erdmännchen auf Menschen): Aufgeben des Alten, welches unter geänderten Bedingungen nicht mehr funktioniert, also einen Schritt zurück, aber insgesamt zwei Schritte nach vorne, wie die Beispiele erkennbar machen, die ohne den Schritt zurück nicht machbar gewesen wären, weil das Etablierte dies nicht erlaubt hatte und hätte. So stellte sich die Situation aber letztlich als Verbesserung heraus: Mehr Sicherheit und Verlässlichkeit des Clans, mehr Zufriedenheit unter den Erdmännchen. Oder in den einfachen, aber klaren Worten der Autoren: „Nicht dass wir uns dieses Problem herbeigewünscht hätten – aber eine kluge Lösung kann uns zu einem noch stärkeren und besseren Clan machen. Also liegt hierin eine Chance.“ (Kotter/Rathgeber, 2017: S. 68) 

 

Das Werk erinnert insgesamt und primär an Risikomanagement-Literatur, aber auch an Erkenntnisse aus der systemischen Resilienzforschung (u.a. der HRO-Theorie der soziologischen Organisationsforschung) und der historischen Kollapsforschung: Neue Umstände und Krisen ereilen Gesellschaften unweigerlich. Wer unter diesen neuen Bedingungen bei etablierten Routinen verharrt, weil er nichts anderes kennt und kann, wird Scheitern. Einerseits ist bekannt, dass Routinen hilfreich sind, weil sie die anfängliche Komplexität von Arbeitsvorgängen reduzieren und so auch die Sicherheit im Normalbetrieb erhöhen. Andererseits machen sie aber auch tendenziell blind für minimale Änderungen bis zur Verkennung des richtigen Verhaltens in kritischen Situationen, und werden damit in diesen Fällen selbst zum Risiko. Erst dann, wenn diese ungewohnten Bedingungen als Entwicklungschancen zur Weiterentwicklung genutzt werden, was die Autoren die „große Chance“ nennen, führt dies zur allgemeinen Prosperität (vgl. die DRI-Studie: „Pfeiler“ zur Entwicklung eines demokratischen Weltparlaments). 

 

Dies galt auch für den Ursprungs-Clan: Denn beide Varianten, die des reinen Managements und des reinen Leadership, funktionierten nicht. Solange etwas funktioniert, wird es beibehalten, auch wenn es schlecht funktioniert. Wenn aber die Kosten für den Status Quo zu hoch werden – weil das Alteingesessene nicht mehr funktioniert –, dann erfolgt Veränderung: Neues wird gewagt, das Risiko der Ungewissheit akzeptiert. Ähnlich formulierte dies Webber (2010: 27) in einer Heuristik: ''Change happens when the cost of the status quo is greater than the risk of change''. Das provoziert jedoch eine innere gesellschaftliche Spaltung, denn die Kräfte, die trotz einer Krise den Status Quo beibehalten oder wiederherstellen wollen, sind stark. Dies ist jedoch gegenwartsfokussiert und verkennt den „Sinn“ der Geschichte der Menschheit einer offenkundigen Weiterentwicklung von Sammler-Jäger-Gesellschaften zur noch nicht erreichten „Nachhaltigen Gesellschaft“ der SDGs (dazu an dieser Stelle aber keine weiteren Erörterungen). Das illustrieren die Autoren in ihrer Geschichte ebenfalls: „Die meisten im Clan denken, wir werden uns berappeln und nach einer gewissen Weile wieder zur Normalität zurückkehren.“ Schließlich werden die Vorwarnungen aber ernst genommen: „Es hat Anzeichen gegeben, vielleicht keine dramatischen Anzeichen, dass sich unsere Welt verändert. Und zwar dauerhaft.“ (Kotter/Rathgeber, 2017: S. 112)  Die reaktionären Kräfte in der Gesellschaft werden schließlich überzeugt und der Clan wird proaktiv. Dafür benötigt es aber zweierlei: Einerseits ein reifes Risikomanagement im Umgang mit der aktuellen Situation, andererseits eine langfristige Neuausrichtung auf einen erwünschten Zielzustand hin, der Orientierung bietet (vgl. hierzu auch Brunnhuber, 2018): „...wofür wir stehen, wer wir sein wollen sowie über wichtige aktuelle Themen, die den ganzen Clan betreffen.“ (ebd. S. 79) Als Pluspunkt warten die Autoren zudem noch mit einer Vielzahl psychologischer Einsichten auf, oder: „typisch Erdmännchen“. 

 

Literatur 

  • Bird, F. E., Germain, G. L., Clark, M. D. (2003): Practical Loss Control Leadership, Third Edition, Georgia: Det Norske Veritas.
  • Brunnhuber, R. (2018): Mit Prävention in Richtung Zukunft? Eine Lösung für Gardiners ''minimal global test'' für Institutionen, Artikelreihe des Human and Global Development Research Institute (DRI), Wien
  • Kotter, J., Rathgeber, H. (2017): Das Erdmännchen-Prinzip. Aus Krisen als Gewinner hervorgehen, Droemer
  • Tuckman, B. W. (1965). Developmental sequence in small groups. Psychological Bulletin 63
  • Webber, A. M. (2010): Rules of Thumb. How to Stay Productive and Inspired Even in the Most 

 

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