Wohin soll sich unsere Gesellschaft entwickeln?

Von Robert Brunnhuber,  MSc (DRI)

 

Am 2. Oktober fanden die „Stiftingtaler Gespräche“ in der Arbeiterkammer Steiermark statt. Im Laufe eines Vortrags des Historikers Philipp Blom kristallisierte sich eine Antwort auf die eröffnende Frage des AK-Präsidenten Josef Pesserl heraus: In der Gesellschaft fehle wegen einer eher kurzfristigen Orientierung der breite gesellschaftliche Diskurs zur Frage „Wohin soll sich unsere Gesellschaft entwickeln?“ Eine solche Frage impliziert zunächst eine längerfristige Perspektive, aber involviert als genuin ethische Fragestellung zahlreiche spezifische Fragen. In diesem Beitrag erfolgt ein zusammenfassender Überblick aus Sicht DRI-spezifischer Themen. 

 

Hauptreferent Philipp Blom, der „Historiker, der in die Zukunft schaut“, griff diverse Themen aus seiner jüngsten Buchveröffentlichung „Was auf dem Spiel steht“ auf. Thematisiert wurden primär der Klimawandel und die Digitalisierung. Diese Entwicklungen, so Blom, setzen die Grundvoraussetzungen unserer Gesellschaft aufs Spiel. In dieser Formulierung handelt es sich also um ein Risiko, d.h. es steht etwas, das von gesellschaftlichem Wert ist, auf dem Spiel, aber der Ausgang ist unsicher. In Brunnhuber (2018b) wird erläutert, dass das, was auf dem Spiel steht – um diese Formulierung aufzugreifen –, eine menschenwürdige Gesellschaft ist. Um dies zu verdeutlichen sei ein historisches Beispiel angeführt, welches Blom nutzte: Die merkantilistische Theorie postulierte, dass arme Menschen für Wirtschaftswachstum wichtig seien, weil sie billige Arbeitskräfte wären. Aber wenn sie zu arm sind, dann verhungern diese Menschen, und wenn sie zu viel verdienen, dann bekommen sie Ideen. Offensichtlich handelt es sich bei diesem System nach den Maßgaben von allen Menschen nachvollziehbaren moralischen Intuitionen (vgl. Brunnhuber, 2018b), um eine nicht menschenwürdige Gesellschaft, in der Menschen nicht menschlich behandelt werden. Dieses Beispiel zeigt, dass die Idee von Gesellschaft pervertiert werden kann: Gesellschaften dienen den Menschen, nicht umgekehrt. Konkret: Wenn die gesellschaftliche Stabilität zum Selbstzweck wird, dann funktionieren Menschen für die Gesellschaft, aber eigentlich schließen sich Menschen zu Gesellschaften zusammen (und leben nicht mehr primär in Sammler-Jäger-Gesellschaften, in kleineren Kommunen oder als Einsiedler oder in anderen bescheidenen Verhältnissen), weil sie daraus die größten Vorteile für ihr Dasein beziehen können. Um daher Bloms Behauptung anders zu formulieren: Gesellschaftliche Stabilität ist daher kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck für den Menschen, die Menschheit und die Menschlichkeit. 

 

Mit der Größe von Gesellschaften geht aber auch unweigerlich eine steigende Komplexität einher. Umso komplexer Gesellschaften sind, desto komplexer sind auch ihre Entwicklungen. Wie bei der Podiumsdiskussion eingeräumt wurde, fehle es selbst den Experten an „Überblick“. Dies ist nur plausibel: Da Experten in der Regel Experten für Details und Detailfragen sind, gibt es kaum jemanden, der die großen Zusammenhänge versteht und den Überblick bewahrt. Mit anderen Worten: Es fehlt an Generalisten! Doch das diesbezüglich entscheidende Argument von Blom lautete, dass komplexe Entwicklungen so komplex sind, dass die Menschen den Überblick verlieren (es sei hinzugefügt: auch über die Frage was moralisch „richtig“ und „falsch“ ist). Sie würden daher anfällig für „einfache Antworten“. In dieser Polemik schwingt jedoch die unausgesprochene Annahme mit, dass „einfache Antworten“ immer „schlecht“ oder „falsch“ seien. Doch nicht alle Antworten sind „schlecht“ oder „falsch“. An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs eingeflochten: Gerade dann, wenn Entwicklungen scheinbar unübersichtlich komplex erscheinen, können „einfache Antworten“ in Form von Heuristiken hilfreich sein. Beispielsweise behauptet Gerd Gigerenzer (im Gefolge von Herbert Simon) mit durchaus berechtigten Argumenten – und auch in anderer Forscher, die seine Position teilen –, dass gerade in Situationen erhöhter Komplexität, die ohnehin nicht gänzlich durchdrungen werden kann, bestimmte Entscheidungs-Heuristiken („Daumenregeln“) noch die verlässlichste aller Entscheidungsgrundlagen darstellen. Heuristiken sind insofern ein Problem, wenn sie fraglos angewendet werden. Doch Gigerenzer nimmt in dieser Hinsicht eine Position der ''Ecological Rationality'' ein (vgl. bspw. Mousavi/Gigerenzer, 2014). Nach diesem Ansatz besitzt jeder Mensch eine ''Tool-Box'' an Heuristiken und kann entsprechend den situativen Umständen (''ecological'') entscheiden, welche der Entscheidungs-Heuristiken jene ist, die zu diesen Umständen passt. Im Sinne einer vom DRI formulierten Frage, wie mit größerer Unsicherheit umgegangen werden kann und soll, gibt dieser Ansatz eine mögliche Antwort, da die ''Ecological Rationality'' die Innendimension (''Tool-Box'') mit der Außendimension (der nach situativen Merkmalen korrekten Auswahl der Heuristik) verknüpft. Heuristiken sind zwar starke Vereinfachungen, doch ihre Stärke liegt gerade darin, dass genau dann, wenn eine komplexe Situation schwer zu begreifen ist, solche dennoch noch (empirisch verfizierbar) zu den bestmöglichen Ergebnissen führen, auch wenn sie nicht zu den optimalen führen können. Konkret: Welche Situation liegt vor (klassische Beispiele der aktuellen Heuristik-Forschung sind Sport, Investment, Konsumverhalten, Sicherheit) und rechtfertigt das Ausmaß an Komplexität oder die Höhe der Unsicherheit die Anwendung einer geeigneten (in der Vergangenheit erfolgreich angewendeten) Entscheidungs-Heuristik. Die Metapher der Werkzeugkiste ist daher passend gewählt, denn auch ein Schraubenzieher oder Hammer können nicht in allen erdenklichen Situationen unhinterfragt angewendet werden. Es wäre daher ein Fehler wenn „der Mann mit dem Hammer alles für einen Nagel hält“. In gleicher Weise müssen auch Entscheidungs-Heuristiken achtsam und umsichtig („ökologisch“) mit Bedacht gewählt werden. Dennoch bleibt aber auch die bewusste Anwendung solcher Entscheidungs-Heuristiken (nicht zu verwechseln mit in jedem Menschen wirksamen Urteilsheuristiken, die primär durch unbewusste psychische Prozesse die Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit von Menschen beeinträchtigen und verzerren) ein Risiko: Selbst wenn sie mit sorgfältigem Bedacht auf die situativen („ökologischen“) Umstände angewendet werden, folgt daraus nicht, dass sie nicht versagen, auch wenn sie in den meisten Situationen zu zumindest zufriedenstellenden Ergebnissen bei vergangenen Anwendungen geführt haben (induktiver Fehlschluss). Sie sind aber dann als einfache Lösungen hilfreich und wichtig, wenn es keine besseren Entscheidungsgrundlagen gibt und selbst Experten mit der vorhandenen Komplexität und den damit verknüpften Unsicherheiten überfordert sind, wie ebenfalls während der Podiumsdiskussion hinsichtlich der anstehenden Herausforderungen eingestanden und diskutiert wurde. Unter genau diesen Umständen sind „einfache Antworten“ in Form von – und das sollte dabei nicht vergessen werden – in der Vergangenheit erfolgreich angewendeten Entscheidungs-Heuristiken durchaus eine „brauchbare“ Lösung. 

 

An einem Beispiel, welches Blom resümierte, soll dies verdeutlicht werden: Er verglich in seinem Vortrag Staaten während der „Kleinen Eiszeit“ hinsichtlich dessen, wie sie auf diese Veränderungen reagierten. Wie andere Organismen haben nach Blom die Menschen auch nur drei Möglichkeiten, wenn sich die Umweltbedingungen ändern: Aussterben, wegziehen oder sich verändern. Er folgerte, dass es angesichts der Herausforderung des Klimawandels klug sei, Flexibilität zuzulassen.  Flexibilität gilt als wesentliches Merkmal von Resilienz (vgl. bspw. Fiksel, 2003) und ist daher sicherlich eine sinnvolle Heuristik angesichts dessen, dass kaum bekannt ist, was der Klimawandel konkret bringen wird. An einem Beispiel verdeutlichte dies Franz Fischler in seinem Essay „Diversität und Resilienz“ zum diesjährigen Forum Alpach: Nach diesem ist es fahrlässig, wenn die genetische Vielfalt permanent eingeengt wird, anstatt Forschungen zu betreiben, welche Pflanzen mit den veränderten Umweltbedingungen besser umzugehen wissen. Wer Stabilität und Nachhaltigkeit erreichen will, so Fischler in seinem Essay, der sollte diese Stabilität in der Metapher des Hauses auf vielen Pfeilern ruhen lassen (vgl. Fischler, 2018). Dies bemerkte eben auch Blom: Die Botanik war für flexible Staaten während der „Kleinen Eiszeit“ unter den geänderten Bedingungen eine wichtige Wissenschaft geworden. 

 

Irrwege sind in einer Entwicklungsperspektive der Menschheit eher mühsame Umwege: Wenn Gesellschaften (in der Außendimension nach dem Jargon des DRI) einen Zustand erreicht haben, von dem allgemein die meisten Menschen die Meinung entwickeln, er sei nach den allgemeinen moralischen Intuitionen „unmenschlich“ (Innendimension), dann wird mehrheitlich die Schlussfolgerung dominieren, dass Gesellschaften doch „lieber“ anders beschaffen sein sollten. Anders formuliert: Solche Zustände enthalten bereits den Keim für einen Wandel in sich, da solche Zustände den allgemeinen moralischen Intuitionen Vieler widersprechen. Schließlich führten diese miserablen Zustände eines merkantilistisch fundierten „Wirtschaftswachstums, welches auf Ausbeutung beruhte“ (Blom) zur Idee der Aufklärung: Alle Menschen sind gleich! Bereits zu dieser Zeit begannen Denker sich nicht nur damit zu befassen, was alles „Schlechte“ beseitigt werden sollte, sondern welche „guten“ Zustände Gesellschaften annehmen sollten, damit es nicht erneut zu einem Versuch-und-Irrtum-System käme. Dieser Versuch-Irrtum-Zugang ist nämlich nicht mehr als eine indirekte Weiterentwicklung von Gesellschaften: Wenn sie wissen, wie sie es nicht wollen, entwickeln sie sich weiter. Wie aus der Historischen Kollapsforschung zu entnehmen ist, können solche Versuche aber auch fatal scheitern. Denn im Laufe von Zivilisationen gab es immer Zyklen der Prosperität und des Niedergangs. Der Niedergang kam – etwa nach Arnold Toynbee – dann, wenn Herausforderungen nicht als Entwicklungschancen genutzt wurden. Es sollte daher nicht bloß dem Zufall überlassen bleiben, wie sich Gesellschaften entwickeln. Mit anderen Worten: Eine Entwicklungsperspektive benötigt eine Zielvorstellung, „wohin die Reise gehen soll“, um die Eröffnungsfrage nach Pesserl zu variieren.

 

Blom kritisiert in dieser Hinsicht den dominanten politischen Zugang, wonach Machbarkeitsanalysen politische Entscheidungen dominieren würden, aber nicht „Fernziele“. Dieser Zugang gleicht dem technischen Imperativ: Machen, was machbar ist! Dieser Imperativ benötigt keine ethische Überlegungen, er benötigt keine „Fernziele“, denn es wird einfach gehandelt ohne zu fragen, ob dies „richtig“ ist. Aber dies gleicht einem Zustand der Passivität. Zur Illustration bemüht Blom die Analogie des Schachspiels: Es gehe darum die Initiative zu behalten; wer nur reagiert, der befindet sich schon in der Verlierer-Position. Ob diese Analogie glücklich gewählt ist sei dahingestellt, wichtiger ist wohl die Kernaussage: Wir können Veränderungen gestalten oder erleiden. Um sie jedoch zu gestalten benötigt es eine Vorstellung davon, „wohin die Reise gehen soll“ und einen „Kompass“. Auch wenn sich beim Schach das Blatt noch wenden kann, bleibt dies eher den situativen Umstände überlassen. Es ist also wichtig eine Vorstellung davon zu haben, wohin die Reise gehen soll, auch wenn – wie beim Schach – dieser Plan den Umständen entsprechend ständig adaptiert werden muss, ohne jedoch das Ziel aufzugeben. Selbst wenn das Spiel verloren sein sollte, so bleibt beim Schach das Ziel dennoch bestehen, nämlich zu gewinnen. Es ist das sich durch das gesamte Spiel hindurchziehende langfristige Ziel. Ungleich zum Schach gibt es in der realen Welt aber einerseits ethische Maßstäbe, die mit menschlichen Intuitionen korrelieren, d.h. beim Schach gibt es keine Wertung zwischen moralisch „richtig“ und „falsch“, sondern nur zwischen taktisch und strategisch zielführend. Andererseits steht das Ziel zu gewinnen außer Frage, d.h. es steht nicht auf dem ethischen Prüfstand, denn würde das Ziel bezweifelt werden, dann würde das Spiel an sich sinnlos werden. 

 

Um daher auf die eingangs erwähnten ethischen Fragen einzugehen: Während die moralischen Intuitionen die Aufgabe des „Kompass“ übernehmen können, sieht Blom noch eine offene Frage bezüglich des „Reiseziels“. Er geht in dieser Frage in seinem Vortrag mit einem dominanten Vorschlag konform, der aus der Umweltdebatte bekannt ist: Gesellschaften benötigen Visionen. Nach Blom besitzen nicht die Klügsten die Deutungshoheit in Gesellschaften, sondern jene, die am besten Geschichten erzählen können (Utopisten sind dafür ein anschauliches Beispiel, auch wenn Blom diese in seinem Vortrag nicht erwähnte), mit denen sich die Mehrheit der Personen identifizieren können: Beispielsweise die Geschichte von einer „heilen Welt“ durch Digitalisierung. Dass solche Entwicklungen aber stets vermittelt über ungewollte Nebenwirkungen Vor- und Nachteile produzieren (wobei die Frage ebenfalls zu stellen ist, welche Seite überwiegt), wird dabei gerne vergessen. Blom, im Tenor eher pessimistisch, sieht darin besonders die Frage des zukünftigen Arbeitsmarktes im Zentrum und thematisiert die Frage nach einem „bedingungslosen Grundeinkommen“. Seinen Ausführungen ist zu entnehmen, dass bei der aktuellen Geschwindigkeit dieser Entwicklung, eine solche Frage unweigerlich und immer wieder zur Debatte stehen wird. 

 

Eine weitere Frage, die aber leider nur am Rande behandelt wurde, betraf das Wechselspiel von Klimawandel und Digitalisierung. Wie auch in Brunnhuber (2018) darauf hingewiesen wurde, ist es eine noch offene Frage ob sich Digitalisierung und Nachhaltige Entwicklung ergänzen oder behindern. Bisher ist der allgemeine Tenor, dass die Digitalisierung wegen den hohen Effizienzgewinnen den Umweltschutz verbessern wird. Doch wie auch der Volkswirtschaftsprofessor Heinz Kurz bei der Podiumsdiskussion zugestand, er glaube dies, er wisse es aber nicht mit völliger Sicherheit. Die prognostizierten hohen Effizienzgewinne sind sicherlich richtig und auch notwendig bei wachsender Produktion, doch offene Fragen sind (ohne den Rebound-Effekt explizit hinzuzuzählen): Kann die Digitalisierung zu 100% die negativen Effekte kompensieren, die schon produziert wurden und (!) die noch produziert werden (auch durch den Energie- und Ressourcenaufwand technologischer Entwicklung)? Welche auch umweltrelevanten Nebenwirkungen sind in den durch die Digitalisierung produzierten negativen Nebenwirkungen enthalten? Welche Antworten hat Digitalisierung auf eine noch in diesem Jahrhundert erwartbare Energie- und Ressourcenknappheit? Insgesamt: Müssen wir nicht annehmen, dass die Fähigkeit technischer Hilfsmittel an sich begrenzt ist und es schlichtweg eine offene Frage ist, ob der Verlass auf Technologie alleine nicht bloß eine unbewiesene Behauptung ist – quasi ein gesamtgesellschaftliches Experiment mit ungewissem Ausgang? Diese Fragen sind Fragen, die auch im Endeffekt als positiv beantwortet werden könnten: Am Ende kann es tatsächlich sein, dass durch Digitalisierung alles besser geworden ist. Es sei an dieser Stelle lediglich davor gewarnt sich auf dem Argument auszuruhen: Die Technik werde alles „richten“, wir bräuchten uns nicht weiterentwickeln. Aber: Technologien und ihre Anwendungen sind immer eingebettet in „Kultur“. 

Die Aufklärung gilt Blom als Zeit einer radikalen Umerzählung unserer Kultur. Mit ihr kam nicht nur die Idee der Menschenrechte und andere heute bekannte Errungenschaften im Sinne eines menschlichen und ethischen Fortschritts, sondern auch eine „Innere Transformation“ über das Welt- und Menschenbild. Es sei deshalb von entscheidender Relevanz „welche Geschichte wir über uns erzählen“. 

 

Dies verdeutlichte Blom in einem kurzen Hinweis auch bezüglich der Migrationsbewegungen. Er hielt sich von beiden Extrempositionen fern und wählte die vernünftige Mitte: Es sei sicher nicht möglich allen Personen unkontrolliert die Einreise nach Europa zu ermöglichen. Aber Europa zu einer „Festung“ zu machen wäre das Ende der Idee und Kultur der „Aufklärung“. Angesichts des im Dezember zu unterzeichnenden „UN-Migrationspakt“ gewinnt diese Frage erneut an Brisanz. Als allgemeine Orientierungshilfe hat der Autor nach dem Vorbild der drei Faktoren Risikoformel eine solche Mittelposition vorgeschlagen (Quelle: unveröffentlichter Beitrag des Autors aus dem Vorjahr). Angesichts dessen, dass dieses Thema möglicherweise, vermutlich aber sehr wahrscheinlich, das gesamte Jahrhundert ein politisch relevantes Thema bleiben wird, ist sie als kaum mehr eine längerfristige (!) Orientierungshilfe zwischen staatlicher Souveränität und gemeinwohlorientiert Hilfsleistung zu verstehen. Sie besteht aus Eintrittswahrscheinlichkeit, Ausmaß und Häufigkeit. Aus den bisherigen Ereignissen rund um die „Migrationskrise“ ist zu lernen: Um die Eintrittswahrscheinlichkeit zu reduzieren, ist die „Berichtigung der Informationsgrundlage“ nötig, welche im Zeitalter der digitalen Kommunikation bewerkstelligt werden können sollte. Denn Personen agieren stets in Abhängigkeit von den ihnen zur Verfügung stehenden Informationen. Nur wer korrekte (wahre, möglichst umfassende, aber nicht überfordernde Mengen) an Informationen für Entscheidungen besitzt, kann auch tatsächlich selbstbestimmt entscheiden. Im Zeitalter der Digitalisierung finden daher auch Illusionen rasche Verbreitung. Damit würde der maßgebliche „pull“-Faktor reduziert werden können. Aber nicht unerheblich ist auch der „push“-Faktor der Umweltbedingungen, d.h. um Migration zu reduzieren, ist es ein Gebot der Menschlichkeit der entwickelten Staaten den weniger entwickelten Staaten dabei zu helfen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern, d.h. hinsichtlich des Klimawandels vor allem Hilfe zur Anpassung anzubieten (''transformational adaptation'', vgl. Kates et al., 2012). Die Fähigkeit über das tatsächliche Ausmaß der Einreise zu bestimmen wird über Faktoren der Erhöhung der zwischenstaatlichen Resilienz verbessert – aktuell ist dieser Prozess laut Medienberichten stark im Gange. Es ist nämlich nötig und menschlich, dass Migration immer unter kontrollierten und auch menschenwürdigen Bedingungen stattfindet. Sie aber gänzlich zu verbieten würde bedeuten, dass viele Menschen auf menschenunwürdigen Wegen ihre Einreise durchführen würden. Wenn Menschen Hilfe benötigen, ist selbstverständlich Hilfe ein Gebot der Menschlichkeit. Es muss aber zwischen einer temporären und einer permanenten Migration unterschieden werden. Mit Voraussicht auf die Veränderungen, die durch den Klimawandel induziert werden, ist mit einem permanenten Bemühen zur Migration nach Europa zu rechnen. Um jedoch selbst zu bestimmen, wie groß der Anteil der Einreise hinsichtlich der „Häufigkeit“ von Migrationsströmen sein darf, sollte das entscheidende Kriterium „Integration“ sein, d.h. konkret die Kapazitäten von Staaten zur Integration und die Bereitwilligkeit von Einzelpersonen zur Integration (in dieser Hinsicht wird hier auch die Aufforderung des UN-Migrationspaktes „vollständige Integration“ interpretiert). Die Frage der Kapazitäten ist zunächst eine quantitative: Es muss ein entsprechendes Verhältnis gewährleistet sein (z.B. um Segregation und Parallelgesellschaften in hohem Maße zu verhindern, auch wenn es sich nicht gänzlich verhindern lässt.). Es ist jedoch ein Gebot der Menschlichkeit, dass Staaten diese Kapazitäten permanent erhöhen. Und selbstverständlich verdient jede Person eine Chance zur Integration, sie muss sie aber auch nützen, was durch die Bereitwilligkeit ersichtlich wird. Personen können sich auch bessern und verdienen durchaus auch eine zweite Chance, wenn es Anfangsschwierigkeiten gab, doch das Argument lautet hier, dass Menschen als kulturelle Wesen ernst genommen werden müssen! Menschen sind nicht nur biologische Wesen, sondern immer auch Träger von Kultur. Zu starke kulturelle Unterschiede verunmöglichen oder reduzieren gegenseitige Anerkennung unter den Einwohnern eines Staates. Daraus folgen womöglich kulturell induzierte Konfliktpotenziale, die umgekehrt ein Indiz für fehlende Anerkennung sind. „Menschenpflichten“ wären hierfür eine sinnvolle Lösung, damit die Thesen Huntingtons nicht Realität werden. Glücklicherweise besitzt der Mensch die Fähigkeit Teilnehmer mehrerer Kulturen gleichzeitig zu sein, da es nur eine Frage dessen ist, ob eine Person das Bedeutungssystem einer Kultur versteht und nach diesem handeln kann. Somit ist Integration – wie sie hier gemeint ist – keine Assimilation. Wieso jedoch das Kriterium der Kapazitäten entscheiden ist, sei mit Robert Spaemann aus einem Vortrag „Wer hat wofür Verantwortung“ von 1982 beantwortet: „Daß man sich allerdings mit der Übernahme von Verantwortung auch übernehmen kann, zeigt das deutsche Asylrecht. Die Zahl der Menschen auf der Welt, die aufgrund echter Gefahr für Leib und Leben dieses Recht in Anspruch nehmen könnten, ist so groß, daß dies den Zusammenbruch unseres Staatswesens zur Folge haben könnte, wenn auch nur ein erheblicher Prozentsatz von Ihnen dies täte. Hier gilt zweifellos der Satz des Evangeliums, daß der, der einen Turm bauen will, gut daran tut, zuvor die Kosten zu berechnen.“ (Spaemann, 2001: 230)

 

Die Anwendung dieses Hinweises als Orientierungshilfe kann durch mehrere ethische Argumente gestützt werden, darunter zumindest zwei, die auf eine langfristige Perspektive abzielen: Es sollte das Ziel sein die dauerhafte Hilfsfähigkeit von Staaten zu erhalten, d.h. sowohl dauerhaft geordnet Migration zuzulassen, aber auch Hilfe „vor Ort“ anzubieten, was nur dann gelingt, wenn sich Staaten selbst nicht überfordern. Schließlich könnte ein zu starker Migrationsstrom einen „Zusammenprall der Kulturen“ erzeugen, was jedenfalls vermieden werden sollte, um nicht ein Problem durch ein anderes einzutauschen. Dies sind jedoch nur relativ abstrakte Argumente, die sich in der Realität erst bewähren müssten. Somit handelt es sich um einen Vorschlag, dessen demokratische Legitimität noch zu prüfen wäre. 

 

Abschließend sei noch bemerkt: Alternativ zu einer „Vision“ gäbe es aber auch eine andere Möglichkeit, nämlich eine ethisch abgesicherte Zielvorgabe, wie es das Weltethos in einer Interpretation nach Brunnhuber (2018b) liefert. Dies hat den einfachen Grund, dass in jede Vision, die behauptet von einem besseren gesellschaftlichen Zustand zu erzählen, ohnehin implizite ethische Annahmen eingeflochten sind. Es wäre daher angebracht diese ethischen Annahmen a priori offenzulegen. Mit anderen Worten: Nur solche Visionen werden mehrheitsfähig befürwortet werden können, die gewissen ethischen Standards entsprechen, denen Menschen gemäß ihren moralischen Intuitionen zustimmen können. Denn nur in solchen Zukunftsszenarien wollen vermutlich Menschen leben, die ihren moralischen Intuitionen entsprechen. Ob solche Visionen dann aber Wirklichkeit werden, steht auf einem anderen Blatt, denn, wie erwähnt, implizieren alle Entwicklungen unbeabsichtigte Nebenwirkungen, die letztlich die schönen Visionen, so schön sie auch noch seien mögen, vereiteln können. Daher stellt sich stets die Frage ob solche unbeabsichtigten Nebenwirkungen jene ethischen Standards, von denen Menschen erhoffen, dass sie durch gewisse Entwicklungen zur Realität werden, gefährdet werden oder nicht. Eine solche Vision bedeutet daher stets ein Risiko, nämlich dass eine Vision eine Vision bleibt. Dagegen sind ethische Standards gemäß den moralischen Intuitionen empirisch überprüfbar, sowie die Risiken, die durch solche Entwicklungen „anwachsen“ und bereits etablierte ethische Standards oder das Erreichen der erhofften Vision gefährden (Prävention). 

 

Literaturhinweise:

 

Brunnhuber, R. (2018): Mit Prävention in Richtung Zukunft? Eine Lösung für Gardiners ''minimal

global test'' für Institutionen, Artikelreihe des Human and Global Development Research

Institute (DRI), Wien

 

Brunnhuber, R. (2018b): Ethische Orientierung für eine Welt im Wandel. Logische Untersuchungen zum Humanitätsprinzip in pragmatischer Absicht. Vortragsreihe des Human and Global Development Research Institute (DRI), Wien

 

Fiksel, J. (2003): Designing resilient, sustainable systems. Environmental Science and Technology, 37/23, 5330-5339.

 

Fischler, F. (2018): Diversität und Resilienz. Tiroler Tageszeitung (22. Mai 2018). Quelle: https://www.alpbach.org/de/diversitaet-und-resilienz/

 

Kates, R.W., Travis W.R. , and Wilbanks T.J. (2012): Transformational Adaptation When Incremental Adaptations to Climate Change Are Insufficient. PNAS, 109/19, 7156–61. 

 

Mousavi, S., Gigerenzer, G. (2014): Risk, uncertainty, and heuristics. Journal of Business

Research, 67/8, 1671–1678.

 

Spaemann, R. (2001): Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart

 

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