Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag?

Benötigen wir ein Gesellschaftsabkommen für den Schutz zukünftiger Generationen, um aktuelle Probleme zu lösen? 

  

Robert Brunnhuber MSc, Ethik-Experte am DRI, resümiert einen Vortrag von Prof. Gardiner aus Sichtweise der Forschungsfragen des DRI (Abstract siehe unten).

 

 

Der weltweit renommierte Philosoph Prof. Stephen Gardiner, der der Fachwelt als Ethik-Experte mit dem Schwerpunktthema Klimawandel bekannt ist, beantwortet diese Frage mit Ja. Auch wenn er in seinem Vortrag „Motivation (or Baby-stepping towards) a Global Constitutional Convention for Future Generations“ (kurz: GCC) – gehalten an der Universität Graz am 24. Mai – zunächst nur die Grundidee skizzieren konnte, ist er davon überzeugt. Er ist sich der konkurrierenden Ansätze genauso bewusst (siehe Abstract zum Vortrag), wie er auch die bereits vorgebrachten Einwände gegen diese Idee einer sorgfältigen Analyse unterzieht. Allerdings sieht er dies nicht als sein eigenständiges Projekt an, sondern als ein internationales Projekt, für welches zunächst die diversen wissenschaftlichen Fragen zu klären sind, bevor es politikrelevant werden kann. Es lohnt sich daher ein näherer Blick auf diese Idee. Der Beitrag geht dabei folgenden Fragen nach: Welche Einwände wurden bereits vorgebracht? Welche Vorteile würde diese Idee mit sich bringen? Und wie lässt sie sich realisieren?  

  

Ausgangspunkt der Analyse von Prof. Gardiner ist ein institutionelles Versagen. Er sieht das Projekt des UNFCCC, welches dafür Sorge tragen sollte, dass das Risiko eines Klimawandels so gering wie möglich gehalten wird, für gescheitert an – ungeachtet des als Erfolg bejubelten Abkommens von Paris, welches in der Fachwelt auch sehr kritisch betrachtet wird. Nach den drei bekannten Szenarien befindet sich die Menschheit nach Prof. Gardiners Ansicht faktisch am Beginn des business-as-usual Worst-Case Katastrophenszenarios. Obwohl nicht exakt deckungsgleich mit dem Worst-Case-Track, befindet sich der aktuelle Weg dennoch sehr nahe daran (weit über dem + 1,5 bis 2 Grad Ziel), und damit weit abseits von der ethisch zu präferierenden Szenario-Option. Seine Idee erwächst daher aus einem „Kontext des Fehlers“, wie Prof. Gardiner dies im Vortrag betitelte. Sein Argument lautet: Das UNFCCC hat sich leider nicht als die geeignete Organisation erwiesen, um dieses Problem zu lösen. Diese Interpretation muss jedoch nicht zwingend geteilt werden, um die Idee einer GCC zu unterstützen, wie noch gezeigt wird. Das UNFCCC ist der in der Menschheitsgeschichte erstmals stattfindende, dauerhafte Lösungsprozess, der mehrere Nationalstaaten zusammenbringt, um ein gemeinsames ernsthaftes Problem zu lösen, welches die Menschheit bedroht. Das ist historisch wegen seiner globalen Dimension durchaus als Erfolg in dieser Hinsicht anzuerkennen. Auch wenn mit dem Abkommen zur Eindämmung der FCKW-Emissionen bereits ein solches Vorbild existierte, ist das UNFCCC das erstmalige Experiment eines dauerhaft voranschreitenden, strukturierten und organisierten Prozesses zur internationalen Problembewältigung (Rio +). Und selbst wenn das Experiment des UNFCCC tatsächlich gescheitert sein sollte, so ist die Vorarbeit durchaus ein guter Ausgangspunkt für den Vorschlag von Prof. Gardiner, denn es muss nicht „alles neu erfunden werden“, aber es kann durchaus aus den Fehlern gelernt werden.  

  

Unabhängig von dem speziellen Thema Klimawandel besitzt der Vorschlag umfassendere Aspekte. Zumindest zwei davon, die mit der Klimathematik in Verbindung stehen, sollen in diesem Beitrag genauer betrachtet werden:  

  

Erstens: Das UNFCCC ist spezialisiert auf die Lösung eines konkreten Problems. Der Klimawandel ist nur das bekannteste einer Reihe von „Risiken des Anthropozäns“. Die drei größten Risiken sind neben dem Klimawandel (und dessen sogenanntem Schwesterproblem der „Ozeanversauerung“) zusätzlich der Artenschwund und die Bodendegradation. Zwar spielt der Klimawandel für diese Problematiken ebenfalls eine Rolle. Er fördert sowohl den Artenschwund, als auch die Bodendegradation. Dies gilt aber auch umgekehrt, da es Rückkoppelungen in alle Richtungen gibt (z.B. fördert die voranschreitende Abholzung des Regenwaldes den Klimawandel auf mehrfache Weise direkt und indirekt, ist aber direkt zunächst ein Antriebsfaktor für den Artenverlust, da sich die größte Artenvielfalt bekanntlich im Regenwald konzentriert).

 

Zweitens: Das Kernproblem betrifft einen Mangel an Koordination (vgl. Jonas et al. 2014), wie noch weiter unten ausführlicher erläutert wird: Eine individuelle Verpflichtung der Staaten, an der Zielerreichung mitzuwirken, führt entweder zum Problem der Trittbrettfahrer, sowie – selbst wenn das Trittbrettfahrer-Problem nicht auftritt – zum Risiko der Nicht-Aggregation bei fehlender oder mangelhafter Koordination. Mit anderen Worten: Wenn alle Staaten individuelle Lösungen umsetzen, so muss darauf gehofft werden, dass der Aggregationseffekt dieser Lösungen in Summe ausreicht, um das Problem tatsächlich zu lösen. Das Risiko, den Aggregationseffekt nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichend, ist daher sehr wahrscheinlich, weil keine aufeinander abgestimmten („harmonisierten“) Aktionen erfolgen. Im Zusammenhang mit FCKW-Emissionen trat allem Anschein nach das Trittbrettfahrer-Problem erneut auf, als seit 2018 öffentlich bekannt wurde, dass signifikante Mengen seit dem Jahr 2012 lokal emittiert werden.

 

Beide Probleme wurden formal von dem Ethiker Bernard Williams als das Problem der öffentlichen Güter diskutiert (vgl. Williams, 1979: 428): Soll ein Akteur A seinen Beitrag zu öffentlichen Gütern leisten, wenn dieser weiß, dass sich entweder mehr als ausreichend andere Akteure daran beteiligen oder zu wenige? Unter welchen Umständen sollte sich A also beteiligen, wenn die Konklusion unnötig oder irrelevant lautet. Die Antwort nach Williams lautet, wenn A egoistisch ist: Nur dann, wenn A Grund zur Annahme hat, dass sein Beitrag wichtig ist, um die kritische Anzahl der Beitragsleistung zu erreichen, damit ein öffentliches Gut bereit gestellt – oder im Falle des Weltklimas erhalten wird –, welches für die Existenz von A nötig ist. Daher gilt: Wenn er diese Gewissheit nicht besitzt, so sollte er Grund zur Annahme haben, dass sein Beitrag nötig ist. Dieses formale Problem ist jedoch auch unter dem Vorzeichen der Innendimension des Menschen psychologisch zu lösen: Die Wahrscheinlichkeit, dass die kritische Anzahl der Beitragsleistung erreicht wird, steigt mit jedem Akteur, der sich daran beteiligt, nicht ausschließlich wegen der Aggregation der Beiträge, sondern wegen dem wechselseitig wirksamem Motivationsfaktor. Dies ist das Phänomen der „Orientierung an dem Verhalten anderer“. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wird inaktives oder zuwiderhandelndes Verhalten kulturell von anderen Akteuren verpönt, ab einem gewissen Zeitpunkt möchte sogar jeder Akteur derjenige sein, der am meisten Beitrag geleistet hat, um am meisten positive Reputation zu generieren – die ihm letztlich auch zusteht (Leiturgie). Schließlich hätte A, wenn er altruistisch ist, zahlreiche Gründe sich dennoch zu beteiligen, etwa einen Sinn für Fairness gegenüber den anderen Akteuren – so das Resümee von Williams.

 

Auch wenn Prof. Gardiner den Klimawandel als Ausgangspunkt der Notwendigkeit seines Vorschlags erachtet, so besteht die Möglichkeit für GCC an anderer Stelle anzusetzen.

 

Hierfür bieten sich die Sustainable Development Goals an. Sie basieren auf dem ursprünglichen Konzept der Nachhaltigen Entwicklung, deren Definition von 1987 wie folgt lautet: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Wird daher die Definition für Nachhaltige Entwicklung akzeptiert, so zeigt sich, dass sich die Menschheit damit bereits implizit zu dieser Idee bekannt hat. Eine GCC ist so verstanden lediglich eine logische Folge.

 

Damit wäre ein erster Einwand entkräftet, der darauf abzielt, dass sich eine GCC außerhalb der praktischen Relevanz ernsthafter institutioneller Angelegenheiten bewegt. Hinsichtlich der Beschaffenheit der SDGs ist dies auch berechtigt. Diese beziehen sich nicht direkt auf zukünftige Generationen, da sie nur den Zeitraum bis 2030 abdecken und zudem interne Zielkonflikte bestehen. Der Vorschlag ist daher als komplementär zu erachten.

Aus ethischer Perspektive stellt sich dagegen folgende grundlegende Frage: Warum sollten die Interessen zukünftiger Generationen überhaupt geschützt werden? Für eine Bejahung und Verneinung gäbe es mehrere Argumente, die hier nicht diskutiert werden können. Nur ein Extrembeispiel soll genannt werden, nämlich, dass Naturkatastrophen jederzeit die Menschheit vernichten könnten. Dann wäre jedes Bemühen um zukünftige Generationen sinnlos gewesen. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass dieses Argument ausschließlich dann gilt, wenn es die gesamte Menschheit betrifft, also keine zukünftigen Generationen mehr existieren würden. Zudem ist nicht einleuchtend, wieso die Möglichkeit einer globalen – vom Menschen völlig unabhängig geschehenden Naturkatastrophe – das Recht einräumen sollte, dass gegenwärtige Generationen mit Absicht zukünftige Generationen gefährden. Wenn diese im Umkehrschluss nicht mit Absicht gefährdet werden dürfen, dann folgt daraus die Notwendigkeit für das Bemühen, jene Risiken zu erkennen, die solche Gefährdungen darstellen. Insgesamt lautet daher die entscheidende Frage nicht, wieso die Menschheit ihre zukünftigen Generationen schützen sollte – auch wenn wir nicht wissen, ob diese noch existieren werden –, sondern: Wieso sollten wir nicht? Mit anderen Worten: Ist die Nicht-Vorsorge für zukünftige Generationen eine Option? Oder: Sollten wir so handeln, dass wir zukünftige Generationen gefährden? An diesen Variationen der Frage offenbart sich die intuitive Widersinnigkeit, auch wenn hier keine endgültige Antwort gegeben werden soll. Wenn wir nicht so handeln sollten, dass wir zukünftige Generationen gefährden, dann sollten wir auch nicht so handeln, dass wir unbeabsichtigt zukünftige Generationen gefährden. Dies impliziert die ethische Forderung sich dessen bewusst zu werden, welche noch unbewusst nicht erkannten oder „verdrängten“ Risiken bestehen, die zukünftige Generationen ernsthaft gefährden. Der Klimawandel ist dafür das von Prof. Gardiner wegen seiner Eindeutigkeit gewählte Beispiel. Aber es bestehen wie erwähnt weitere ernsthafte Risiken, die noch nicht im gebührenden Ausmaß berücksichtigt werden, und alle mit jenem Fehler in Verbindung stehen, erst dann auf Probleme zu reagieren, wenn sie bereits „ausgewachsen“ sind. So wurde auf die länger bekannte FCKW-Problematik ebenfalls mit Verzögerung reagiert. Auch der Klimawandel ist dafür ein Beispiel: Die meisten der vorgeschlagenen technologischen Lösungen um die Klimaproblematik zu lösen gleichen derselben Mentalität, die in der Fachwelt als „technofix“ bekannt ist und deren großräumige Anwendung – die aber großräumig sein muss, um wirksam zu sein – ebenfalls jeweils Gefährdungspotenziale für zukünftige Generationen bedeuten. Sie sind daher nicht mit Nachhaltiger Entwicklung vereinbar. Oder: Nachhaltige Entwicklung betrifft die Menschheit als Entwicklungsaufgabe, nicht als Aufgabe der Entwicklung neuer Technologien. Die Frage ist also auch zu stellen, wie wir uns ändern müssen, um diese Herausforderung zu meistern? Nachdem alles in Veränderung begriffen ist, ist Veränderungskompetenz entscheidend. 

 

Das Grundproblem unserer Zeit ist psychologisch betrachtet in einem erhöhten Gegenwartsbezug zu finden. Nach einer für Deutschland gültigen Drei-Generationen-Studie unter der Leitung von Prof. Thomas Druyen wurde deutlich, dass spätere Generationen sukzessive verlernt haben, langfristig zu denken (vgl. Druyen, 2016). Kurz gefasst: „Vorsorge“ hatte in früheren Generationen noch einen höheren Stellenwert.  Für zukünftige Generationen zu sorgen, bedeutet zudem einen Zuwachs an Menschlichkeit: Wer sich um zukünftige Generationen sorgt, der sorgt sich auch um gegenwärtige. Tonn (2009: 428) resümiert die zentralen Argumente aus ‘‘Why Future Generations Now?’’ (1994), entstanden aus den Forschungsarbeiten des Institute for the Integrated Study of Future Generations (Kyoto, Japan). Darin finden sich die beiden sehr ähnlichen Argumente „A concern for present people implies a concern for future people“ und „The present generation’s caring and sacrificing for future generations benefits not only future generations but also itself“.

 

Das Fazit lautet: Umso mehr Menschen in dieser Weise denken, desto mehr Lebensqualität verspricht dies zugleich in der Gegenwart. Diese allgemeine Verlagerung zu verstärktem  Gegenwartsbezug ist auch politisch relevant. Prof. Gardiner bezeichnet diese Haltung in der Politik als die „Tyrannei der Gegenwart“ (siehe Abstrakt). Selbstverständlich sind politisch fundierte Institutionen dazu geschaffen mit Problemen umzugehen, die sie „vor sich haben“ und die konkret fassbar sind. Allerdings hat sich die Situation nach Prof. Gardiner zunehmend in ein Extrem entwickelt, welches nach diesem lautet: Vorteile jetzt, Kosten später. Realitätsnahe formuliert zeigen sich die Probleme einer stark gegenwartsbezogenen Haltung ohnehin in zahlreichen Beispielen und Krisen, die hier nicht nochmals erwähnt werden müssen. Die von Prof. Gardiner vorgeschlagene „Minimal Global Constitutional Convention“ wäre deshalb zunächst und ausschließlich dieser Frage gewidmet, wie Institutionen verstärkt Zukunft berücksichtigen können. Dieser Schritt wurde von Prof. Gardiner eigens genannt, weil dadurch bereits von der Diagnose zur Lösung gewechselt wird: Es sollen entsprechend einem Wettbewerb der Ideen (sinngemäß) verschiedene Vorschläge miteinander verglichen werden, um den oder die erfolgversprechenden zu ermitteln.

 

Der nächste Schritt wäre dann die sogenannte „Governance Gap“ mit dem Vorschlag einer GCC zu schließen, wonach Institutionen befähigt werden sollen, intergenerationale Interessen zu berücksichtigen. Aus diesem Grund kann dieser Vorschlag als ein wegweisendes Beispiel dafür erachtet werden, wie Ethik institutionalisiert wirksam werden kann. Ein mögliches ethisches Argument dafür lautet: „Thought experiments in which choosers do not know to which generation they belong rationally imply a concern for both present and future people“ (Tonn, 2009: 428). Eine Rechtfertigung dessen kann auch auf historischen Argumenten beruhen. Die aktuelle historische Situation verlangt von der Menschheit ihr eigenes Erbe zu schützen. Dieses Erbe zu schützen intendiert zugleich, dass dies nur dann sinnvoll ist, wenn auch weiterhin die Absicht besteht, dass es in weiterer Zukunft geschützt wird, also zumindest das Bemühen darum besteht. Dieser letzte der genannten Schritte erscheint daher als die in diesem Stadium der Menschheitsgeschichte „historisch-natürliche“ Reaktion auf „globale Selbstgefährdungspotenziale“ (Ulrich Beck). Damit ist ein weiterer von Prof. Gardiner erwähnter Einwand gegen die Idee von GCC angesprochen, wonach ein solcher Vorschlag nur von realitätsfernen Philosophen in ihrem Elfenbeinturm entwickelt werden kann. Angesichts der hochgradigen Vernetzung aller Nationalstaaten auf globaler Ebene, erscheint diese Idee nicht ihrer Zeit voraus zu sein, sondern hinterher. Erinnert sei an Immanuel Kants kurze Schrift „Zum ewigen Frieden“, die die Satzung der UN maßgeblich beeinflusste. Gerade solche philosophischen Ideen haben sich als äußerst weitsichtig erwiesen, die nicht an gegenwärtigen Umstände orientiert sind, sondern an dem grundsätzlich noch realisierbarem Besten. Der Vorschlag reiht sich daher ein in eine geschichtsphilosophische Perspektive, wie sie Kant eröffnete.

 

Eventuell liegt daher der Fehler nicht unbedingt in einem institutionellen Versagen, als vielmehr in dem kulturellen Umstand begründet, auf Probleme erst dann zu reagieren, wenn sie virulent geworden sind, besonders dann, wenn sie zudem vermeidbar sind oder gewesen wären. Die institutionell verankerte Ethik ist daher in ihrer Funktion der Prävention praktizierbar: Die konkrete (ethische) Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen (vgl. Tonn, 2009) bestünde darin, dass Selbstgefährdungspotenziale durch institutionelle Arbeit und Koordination reduziert werden, wofür der Vorschlag einer GCC den Fokus eröffnet. 

 

Der Vorschlag markiert daher zugleich eine Zäsur in der kulturellen Entwicklung der Menschheit auf globaler Ebene: Statt einem reaktiven Verhalten, welches also rein reaktiv auf bereits eingetretene Probleme reagiert, wird zu einem Primat bzw. Vorrang der Prävention gewechselt. Dieser Vorschlag ist weiterhin konform mit der Idee einer „Kultur der Prävention“, die bereits von dem ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan stammt. Der Vorrang der Prävention besagt jedoch nicht, dass es keinerlei Reaktion mehr geben würde, sondern lediglich, dass jene Probleme, d.h. die bereits bekannten oder absehbaren Probleme, vermieden werden sollen. Auf der Ebene der Menschheit liefert der Vorschlag einer GCC dafür die Begründung: Sie sollen vermieden werden, um zukünftige Generationen nicht zu gefährden oder erheblich (unmenschlich) einzuschränken. Es können jedoch nicht alle Probleme von vorn herein vermieden werden, daher wird es weiterhin Reaktionen geben müssen. Jedoch ohne vorausschauendes Denken und Handeln ist das Auftreten gravierender Probleme höchst wahrscheinlich. Eine Kultur der Prävention anerkennt daher den Wert der Prävention: Ohne Prävention sind die Kosten eines möglichen (abzusehenden) Schadens in den meisten Fällen (nach empirischen Erkenntnissen) viel größer, als es die Kosten der Prävention gewesen wären. (Auf globaler Ebene nutzte das renommierte Chartered Insurance Institute für die ökonomischen Verluste des Klimawandels als Referenzwert der Abschätzung das globale Bruttosozialprodukt, um zu beantworten, wann bei einem Szenario ohne Prävention der Zeitpunkt gekommen ist, der es verlangt, dass der gesamte weltweit generierte Reichtum zur Beseitigung der Katastrophenfolgen aufgewendet werden müsste.) Kulturell gewinnt mit dieser Einsicht der Wert der Prävention an Stellenwert.

 

Wenn also die Prämisse von Prof. Gardiner akzeptiert wird, dass aus dem Kontext eines Fehlers heraus agiert wird, dann impliziert dieser Kontext des Fehlers, dass zukünftige ähnliche Fehler durch den Primat der Prävention vermieden werden sollten, indem aus dem aktuellen Fehler gelernt wird. Ohne ein gemeinsames, auf langfristige Sicht ausgerichtetes Ziel, wird daher nicht der Fokus auf Prävention verlagert, um vorausschauend solche Probleme zu erkennen, die die Zielerreichung gefährden. Kurz gefasst: Der Fokus wird durch eine Zielsetzung auf die Früherkennung der Zielabweichung durch diverse (auch noch nicht bekannte Probleme) hin sensibilisiert.  Klassisch wird die Aufgabe eines Risikomanagements derart definiert, dass Faktoren, die dazu führen, dass Ziele nicht erreicht werden, bestimmt werden. „Risiko“ ist daher definiert als die Abweichung von Zielvorgaben. Die grundsätzliche Aufgabe und treibende Kraft des Risikomanagements in Unternehmen ist es allerdings, ganz basal, den Ruin des Unternehmens zu verhindern. Ein explizites Risikomanagement für das Unternehmen „Menschheit“ existiert jedoch noch nicht – zumindest nicht in dem erwünschten Reifegrad. Krysiak (2009) hat dafür bereits die sinnvolle Anwendungsmöglichkeit erwogen. Ein absehbarer Einwand auf ein solches Argument könnte lauten: In welcher zeitlichen Extension sollte Prävention in die Zukunft gerichtet sein? Die Antwort ist pragmatisch und simpel: Wenn das Ziel darin besteht, für alle Ewigkeit die Interessen zukünftiger Generationen zu schützen, dann enden dennoch die praktischen Kapazitäten dort, so weit vorausschauend Prävention möglich ist und (!) zweckdienlich umgesetzt werden kann. Dies ist zugleich die Antwort auf die Frage: Wie viel Prävention ist zu viel? Prävention ist kein allumfassendes Instrument, Prävention ist nicht allumfassend möglich. Aber sie ist auf ethisch-sinnvolle und praktisch-effiziente Weise möglich.

 

Dies führt zu dem zweiten der oben eingangs genannten Aspekte. Die wichtigste Lektion, die es zu lernen gäbe, lautet, dass es eines Ziels bedarf, um Koordination „treffsicher“ zu ermöglichen. Psychologisch benötigen Personen Ziele für Ihr Dasein. Selbiges gilt auch für Unternehmen: Unternehmen benötigen Unternehmensziele, um alle Kräfte des Unternehmens auf diese Ziele hin zu organisieren. (Es gibt zwar davon abweichende, ebenfalls erfolgreiche Zugänge, doch eine gewisse Form der Orientierung bleibt dennoch nötig.) Auch Staaten haben solche Ziele. China ist wegen seiner Ernsthaftigkeit in diesen Belangen weltweit auffallend. In allen Fällen erfüllen diese Ziele zumindest diese eine äquivalente Funktion, nämlich das Verhalten einzelner Akteure zu koordinieren, indem sie eine Richtung vorgeben und eine Orientierung bieten. Auf der Ebene der Menschheit kann es jedoch keine vergleichbaren konkreten Ziele geben, da sich die Umstände der Realisierung in einer globalen und langfristigen Perspektive verändern. Daher ist es auch nötig, dass die Zielsetzung eine ethisch vertretbare und für alle Parteien akzeptable, über zeitliche Veränderungen hinweg weiterhin gültige ist. Dieses Ziel wäre nach dem Vorschlag von Prof. Gardiner, dass zukünftigen Generationen lebenswerte Bedingungen für die Erfahrung des eigenen Lebens hinterlassen werden. Auch wenn der Weg dorthin aktuell Nachhaltige Entwicklung ist, wird nach einer erfolgreichen Entwicklung in dieser Hinsicht das Erbe dieses Erfolgs durch das weiterhin bestehende Ziel des Schutzes zukünftiger Generationen tradiert. Auch die SDGs sind deshalb als Teilziele dessen zu verstehen. 

Wird also das Ziel anerkannt, dann wird auch die Notwendigkeit der Koordination anerkannt. Und diese ist umso wichtiger, da es sich um ein Ziel auf globaler Ebene handelt, dessen Erreichen nicht dem Zufall überlassen bleiben sollte. 

 

Ein demokratisches Weltparlament könnte die Funktion der Koordination erfüllen. Dieser Vorschlag ist mit der Idee einer GCC in mehrfacher Hinsicht übereinstimmend: Ein demokratisches Weltparlament bezieht die Rechtfertigung seiner Existenz aus diesem Ziel und überwacht dieses Ziel, jedoch ausschließlich auf dieser Ebene: Es sollen solche Lösungen für Fragen und Herausforderungen, die die Menschheit als Ganze und ihre zukünftige Entwicklung betreffen, gefunden werden, die stets die Interessen der zukünftigen Generationen schützen. Damit ist ein weiterer Einwand angesprochen, den Prof. Gardiner vorbrachte, wonach sein Vorschlag autoritär wäre. Um die für alle Parteien akzeptablen Lösungen zu finden, ist daher eine demokratische Vertretung aller Parteien bzw. Nationalstaaten, die entsprechende Zugangsweise (Subsidiarität). Eine GCC kann auch in einem solchen Weltparlament umgesetzt werden oder in dieses übersetzt werden. Eine gangbare Lösung könnte in „Richtlinien“ bestehen, wie sie aus der EU-Legislative bekannt sind: Es bleibt den Staaten überlassen, wie sie diese Ziele erreichen, solange dies in internationaler Koordination der Staatengemeinschaft erfolgt. Die Einhaltung weiterer Prinzipien, wie sie in der Politischen Ethik bereits entwickelt wurden, könnten als zusätzliche Absicherung hinzugezogen werden.

 

Dies könnte also die Rolle eines solchen möglichen demokratischen Weltparlaments sein. Es wäre eine organisatorische Maßnahme, die auch deshalb nötig sein könnte, weil das Risiko besteht, dass sich der kulturelle Wandel vom dominanten Gegenwartsbezug zur Prävention auf Ebene der existierenden Institutionen nicht schnell genug vollzieht. Obwohl häufig auch bottom-up Selbstläufer-Effekte zu beobachten sind (z.B. Grass Roots-Bewegungen), wonach sich mehrere Akteure auf ein Ziel hin organisieren – dies gleicht dem Phänomen selbstorganisierender Prozesse –, stellt sich dabei stets die Frage, ob sie die Kraft entwickeln, eine kritische Menge an Akteuren für ein Anliegen zu erwirken, wie weiter oben angemerkt wurde. Es darf streng genommen daher nicht damit gerechnet werden, dass dies der Fall ist: Schritt 1- Kontext des Fehlers nach Prof. Gardiner ist das UNFCCC, was für eine GCC nicht wiederholt werden sollte. Es ist anzunehmen, dass in der Mehrheit der Fälle eine erfolgreiche Zielerreichung durch eine top-down Koordination wahrscheinlicher ist (auch wenn es Ausnahmen gibt). Oder: Auch wenn bottom-up Lösungen ihre Berechtigung haben, sollte auf diese alleine nicht vertraut werden. Beide Wege schließen sich aber nicht aus und können sich auch gegenseitig positiv bereichern.

 

Fazit: Zunächst wäre es die Aufgabe der Wissenschaft die theoretischen Fragen der vorgebrachten Idee zu klären, um Konstruktionsfehler zu verhindern. Um diese Fragen zu klären, empfiehl Prof. Gardiner ein interdisziplinäres und großangelegtes Projekt, und rät zu einer internationalen Kooperation von Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Einrichtungen. In einem weiteren Schritt wäre zu klären, wie die Interessen zukünftiger Generationen institutionell berücksichtigt werden können und sollen: Welche Interessen zukünftiger Generationen sollen berücksichtigt werden, wenn wir diese Interessen noch nicht exakt bestimmen können? (Zu diesem Aspekt wurde am DRI bereits ein Vorschlag entwickelt vgl. Brunnhuber, 2017.) Wie sind sie zu berücksichtigen? Wieso sind sie zu berücksichtigen? Etc.

 

Literaturvermerk

 

Brunnhuber, R. (2017): Ethischer Realitätssinn nach dem Weltethos. Lösungsansätze nach einer psychologischen Lesart, Artikelreihe des Human and Global Development Research Institute (DRI), Wien 

 

Druyen, T. [Hrsg.] (2016): Drei Generationen im Gespräch – Eine Studie zum intergenerativen Zukunftsmanagement, Wiesbaden 

 

Jonas, M., Ometto, J. P., Batistella, M. Franklin, O., Hall, M. et al. (2014): Sustaining ecosystem services: Overcoming the dilemma posed by local actions and planetary boundaries. Earth’s Future, 2, 407-420.

 

Krysiak, F. C. (2009): Risk Management as a Tool for Sustainability. Journal of Business Ethics 85/S3, 483-492.

 

Tonn, B. E. (2009): Obligations to future generations and acceptable risks of human extinction. Futures 41/7, 427–435. 

 

Williams, B. (1979): Interne und externe Gründe, in: Heinrichs, B., Heinrichs J.-H. [Hrsg.] (2016): Metaethik. Klassische Texte, Berlin

 

 

FWF Guest Lecture within the Doctoral Programme Climate Change (University of Graz) by Prof. Stephen Gardiner (University of Washington, Department of Philosophy)

 

Titel: Motivation (or Baby-stepping towards) a Global Constitutional Convention for Future Generations

 

Abstract 

 

I propose that we call for a global constitutional convention for future generations, akin to the American constitutional convention of 1787, which gave rise to the present structure of government in the United States. This body would confront the serious “governance gap” that currently exists surrounding concern for future generations. The driving idea is that current institutions tend to ignore and crowd out intergenerational concern, and thereby facilitate a “tyranny of the contemporary”. They not only fail to address a basic standing threat to humanity and other species, but also help that threat to become manifest. Climate change is a prime example. In this paper, I outline the proposal and defend it against some initial objections. In particular, I argue that there is a natural argumentative path toward the global constitutional convention, and one that is difficult to resist. I also insist that we should be evenhanded in the way we treat the proposal in comparison with its major conventional rivals. Those who put their faith in alternatives (e.g., the emergence of a great leader, a grand alignment of interests, bottom up climate anarchism, or national governments understood as effective intergenerational stewards) must also confront standard complaints about naivety, urgency, threats to democratic values, and the like. Moreover, the proposal for a global constitutional convention at least has the advantage of addressing the problem we face head on.  

 

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