Der Seneca-Effekt (Rezension)

Bardi, Ugo: Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können, oekom, München, 2017

 

Wissenschaftliche Rezension von R. Brunnhuber, BA, BA, MSc, Ethikexperte am DRI

 

Ugo Bardis Buch beschäftigt sich mit der provokanten Frage „Leben wir in einem Zeitalter, in dem alles kollabiert?“ Diese Frage stellt der Autor basierend auf einer Erkenntnis des  römischen Philosophen Seneca: Ein Aufbau dauert stets lange, der Zusammenbruch dagegen geschieht plötzlich und vollzieht sich rasch. Dieses Phänomen wird vom Autor als Seneca-Effekt bezeichnet und der Moment des Umschlags ist als „Kipppunkt“ (tipping point) bekannt. Für diesen Effekt führt Bardi zahlreiche Beispiele an.

 

Das Buch ist die deutsche Fassung des 42. Berichts an den „Club of Rome“ und gehört daher zu einer Reihe an Berichten, die mit dem berüchtigten ersten Bericht „Grenzen des Wachstums“ ihren Anfang nahmen. Ungleich zu den Vorgängerberichten stelle sich jener von Bardi unter einem anderen Vorzeichen dar: „45 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Berichts allerdings stellt sich die Frage danach, wie ökologische Krisen in der Zukunft verhindert werden können, leider nicht mehr. Heute geht es um die Frage, wie die Menschheit ihre Auswirkungen abschwächen und bewältigen kann.“ (Aus dem Vorwort) Somit sei es also legitim und an der Zeit sich mit der Frage eines möglichen „Kollaps“ zu befassen. Diese als sensibel einzustufende Frage wird in einer Art „zyklischer Determination“ betrachtet: Kollapse gehören quasi zum Wesen des Universums und zu menschlichen Gesellschaften; sie sind unvermeidbar und treten zyklisch immer wieder auf. Trotz der gelegentlich eingeflochtenen Relativierung dieser Behauptung ist der Tenor des Buches insgesamt in dieser Gangart verfasst. Leider werden kaum Möglichkeiten der Intervention erläutert – an verschiedenen Stellen erfolgen lediglich sehr allgemein gehaltene Hinweise. Die einzig stichhaltige Option bildet der Verweis auf eine Studie des Autors gemeinsam mit zwei weiteren: „The sower's way“. Darin wird erläutert, wie die Energiewende bewältigt werden kann. Auch schildert Bardi u.a. eine Skizze einer möglichen nachhaltigen Welt nach dem Ende abbaubarer Erze (gemäß dem Risiko eines Seneca-Effekts), die für technologische Entwicklungen benötigt werden, „wenn wir uns rechtzeitig vorbereiten.“ (167) Für das Management komplexer Systeme gibt Bardi schließlich abschließend drei brauchbare „Merkregeln“ an die Hand, die er sowohl systemwissenschaftlich als auch philosophisch formuliert. Jedoch werden diese für die praktische Anwendung leider nicht erläutert, weshalb jemand, der sie anwenden wollen würde, weiterhin vor zahlreiche Fragen gestellt wäre. 

 

Insgesamt ist das Buch ein weitläufiger und umfassender Überblick über zahlreiche Themen der System- und Umweltwissenschaften. Sehr positiv hervorzuheben ist, dass ein großes Spektrum an Themen behandelt wird, und dass das Buch mit einer Vielzahl an sehr interessanten Hinweises aufwartet. Leider bleibt der Mehrwert des Buches auf solche Hinweise beschränkt, da viele Themen in großer Eile abgehandelt werden. Der Autor bemüht sich, mehrere größere Themen unter einem übergeordneten „Sujet“ zusammenzufassen, indem er viele bereits geschehene oder möglicherweise bevorstehende Ereignisse als Seneca-Effekte interpretiert, und wird deshalb den geweckten Erwartungen auch nur mäßig gerecht. Ein weiteres Manko wird in einer wissenschaftstheoretischen Betrachtung sichtbar: Während der Lektüre bekommt man den Eindruck, dass der Autor sich seiner eigenen wissenschaftstheoretischen Position nicht bewusst ist. Bardi verfällt häufig der Versuchung, soziale Phänomene auf naturwissenschaftliche Entitäten, Tatsachen oder Sachverhalte zu reduzieren. So erklärt er, „dass die Thermodynamik die Einkommensverteilung in der realen Welt beschreibt“ (110), weil gewisse Experimente den Schluss auf gewisse Ähnlichkeiten zulassen, um dann zwei Seiten später die Behauptung zu relativieren. Deshalb ist Klarheit leider nicht das Ergebnis der Lektüre. Er nennt sein Werk zwar „interdisziplinär“, aber er definiert diesen Zugang nicht. Interdisziplinarität ist bereits seit Jahren ein komplexer wissenschaftstheoretischer Begriff. Diverse Themenfelder miteinander zu verflechten und etwaige Querverbindungen zu interpretieren ist noch kein Wesensmerkmal oder „Gütezeichen“ für „Interdisziplinarität“. Stattdessen führt das Buch häufig in einen Irrgarten an Behauptungen. So wird etwa das „selbstzerstörerische Verhalten“ des Menschen, welches er als Spezies entwickelt haben soll – so die nicht näher erläuterte Annahme Bardis – auf eine kryptisch eingeflochtene „genetische Konstellation“ zurückgeführt, was wiederum dem „logischen Denken“ des Menschen zuwiderlaufe: „Und doch verfügt der Mensch – angeblich – über die Fähigkeit des logischen Denkens. Wie also kommt es, dass er diese Fähigkeit nicht auch nutzt?“ (233). Als Beleg hierfür sieht er die Ausbeutung der Umwelt durch Jäger und Sammler, obwohl die Ökologische Anthropologie insgesamt eigentlich die sehr genügsame Lebensweise dieser Gemeinschaften betont. Hier werden von Bardi mehrere Aspekte unsystematisch vermengt und auch leider wenig treffsichere Erklärungsversuche zum selbstzerstörerischen Verhalten unternommen, das Bardi als Gewissheit an- und hinnimmt und dieses im Wesentlichen mit der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen gleichsetzt. Möglicherweise sei die Unfähigkeit des Menschen zur Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten für die Ausbeutung verantwortlich, vermutet er zunächst, um dann zu resümieren, dass doch die Gier des Menschen an allem Schuld sei.

 

Der Zusammenbruch des Imperium Romanum gilt Bardi als die „Mutter aller Zusammenbrüche“. Er nutzt daher den „Fall Rom“ zur Illustration des Seneca-Effekts. Zu diesem Zweck hätte das Beispiel gut gewählt sein können. Doch obwohl der Autor die beachtliche Zahl von mehr als 200 Erklärungsversuchen für den „Kollaps“ des Römischen Reichs anführt, wagt sich der Autor in dieses komplexe Themengebiet, um eine Erklärung anzubieten, die für die Schilderung des Seneca-Effekts eigentlich nebensächlich ist. Er nimmt eine für Historiker ungewöhnliche Position ein: Der Kollaps dieses Reiches sei eher ein schleichender Verfall, welcher bereits zur Zeit des Kaisers Augustus beginnt, also mehrere Jahrhunderte vor dem tatsächlichen Ende des Weströmischen Reichs. Diese ungewöhnliche Diagnose erläutert der Autor durch eine Kombination aus drei verschiedenen Erklärungsansätzen. Zunächst sieht er diese These durch einen systemwissenschaftlichen Ansatz gerechtfertigt, der Rückkopplungen in den Systemprozessen des Reichs berücksichtigt. Dieser Zugang ist geschichtswissenschaftlich selten, wurde aber bereits ebenfalls vertreten, auch wenn Bardi dazu keine Referenzen anführt. Trotz diesem Verweis vertritt Bardi im Wesentlichen jedoch die Position von Joseph Tainter, welcher einen mathematisch-ökonomischen Ansatz bevorzugt: Gesellschaften werden durch zunehmende Problemlösungen komplexer (etwa in puncto Bürokratie). Die anwachsende Komplexität kostet jedoch Ressourcen, v.a. Energie, sodass Tainter das Konzept des abnehmenden Grenzertrag (im Original: diminishing returns) auch für Gesellschaften als Ganze postulierte, d.h. ab einem mathematisch bestimmbaren Punkt werden Gesellschaften anfällig für einen Kollaps, weil sie sich neue Probleme nicht leisten können. Diese beiden Erklärungsstränge verknüpft Bardi dann durch eine nahezu reduktionistisch erscheinende Komponente: Die Gier nach Seide habe das Römische Reich finanziell ausgehungert und daher militärisch geschwächt. Damit führt Bardi schließlich eine für geschichtswissenschaftliche Verhältnisse vertraute dritte Erklärung nach einem rein ökonomischen Ansatz ein. Diese eine und einzige „Ursache“ (49) habe aber scheinbar nur die diversen Rückkopplungsprozesse ausgelöst, denn es erscheint selbst Bardi zu vereinfacht zu erklären, dass das Imperium Romanum kollabierte, weil die Kultur der Römer nach Seide gierte.

 

Das  Beispiel scheint sich jedoch nur schwer in das Gesamtgefüge des Buches einzuordnen: Weder zieht Bardi konkrete Vergleiche zu aktuellen Entwicklungen, noch stellt er Vermutungen an, was daraus zu lernen wäre. So unterschlägt Bardi auch, dass Tainter in vielen seiner späteren Arbeiten mehrere Vorschläge zur Vermeidung eines Kollaps unterbreitet hat. Umwelthistorische Positionen zu dieser Frage sind ebenfalls unterrepräsentiert. Insgesamt erscheint der „Fall Rom“ in Bardis Ausführungen als sehr selektive Auswahl an Erklärungsansätzen, wobei keine davon inhaltlich zufriedenstellend erklärt wird. Zudem fehlt eine überzeugende Verknüpfung dieser drei Ansätze. Lediglich ein kurzer Absatz fasst die Ansätze im Gefolge einer ausführlichen Interpretation der Weltgeschichte zusammen, um die nötige Plausibilität herzustellen. Schließlich scheint aber die Verknüpfung der drei Ansätze überhaupt auf „wackeligen Beinen zu stehen“, insofern der entscheidende Einflussfaktor Gier nach Seide gewesen sein könnte (!) - so Bardi im Konjunktiv. Damit führt der Autor aber stillschweigend eine vierte Erklärungsvariante ein, nämlich Gier oder Maßlosigkeit, also eine moralische oder kulturelle Komponente, auch wenn Bardi sie so nicht bezeichnet. Sie steht im Zusammenhang mit der ersten seiner drei Merkregeln: „Meide Extreme, suche den Mitteleren Weg“ (277). Damit räumt Bardi eigentlich jenem Zugang Priorität ein, welchen das DRI selbst vertritt: die betonte Relevanz psycho-sozio-kultureller Faktoren. Insofern die in diesem System institutionalisierte Gier als kultureller Faktor interpretiert wird, ist Seide selbst nicht das Problem, sondern der ökonomische und materielle Ausdruck einer kulturellen Komponente, welcher auch ein anderer hätte sein können. Eine differenzierte Betrachtung der involvierten psycho-sozio-kulturellen Faktoren entfällt in Bardis Gesamtschau aber völlig.

 

Für Insider der systemwissenschaftlichen Themenfelder ist das Buch als „leichte Kost“ einzustufen und bietet kaum Neues. Es tritt mehr als populärwissenschaftliches Werk hervor, dass komplexe Zusammenhänge leichtverständlich präsentieren möchte, aber eigentlich als ein Sammelsurium der vom Autor bevorzugten Erklärungen für ausgewählte Phänomene auftritt. So erweist sich das äußerst kurze Kapitel über „Resilienz“ als dürftig. Gerade in einem Buch dieses Themas wäre eine klare Darstellung der Frage der systemischen „Resilienz“ erfreulich gewesen. So erläutert der Autor Resilienz vor allem in den beiden bekanntesten Dimensionen Flexibilität und Diversität, letztere besonders am Beispiel der Redundanz. Dies ist zwar korrekt, aber muss doch als eine recht grobe Vereinfachung aufgefasst werden. Auch die Aufzählung der für die Resilienz sozioökonomischer Systeme nötigen Punkte nützt ohne erklärende Ausführungen, was dies in der Praxis zu bedeuten hat, wenig und ist bei Weitem nicht die einzige der bereits in nicht geringer Zahl verfügbarer Enumerationen. Enttäuschend ist daher, dass sich deshalb weder konkrete noch allgemeine Empfehlungen ableiten lassen, obwohl der Autor mehrere Hinweise tätigt, die bereits in diese Richtung gehen. 

 

Zu erwähnen sind vor allem zwei Aspekte in dieser Hinsicht: 1. Obwohl der Autor soziale und kulturelle Faktoren beinahe völlig unbeachtet lässt, erwähnt er dennoch im Zusammenhang mit Resilienz einen solchen, wenn auch ohne Spezifizierung: „Aber möglicherweise besteht das Problem des Menschen gar nicht so sehr darin, dass er die positive Bedeutung von Diversität und Flexibilität nur schwer erkennt; gegebenenfalls haben wir eher Probleme damit, die offensichtlichen Erfolgsfaktoren in die Praxis umzusetzen.“ (245) So wird der Unterschied vom Autor also wie folgt markiert: Resilienz ist das eine, die Umsetzung ihrer das andere. Für Letzteres wird vom Autor scheinbar auch die soziale bzw. kulturelle Dimension anerkannt. 2. Am Beispiel der fossilen Energieträger zeigt der Autor dann abschließend doch noch, worin die Quintessenz der Resilienz für sozioökonomische Systeme besteht: Die Flexibilisierung von Pfadabhängigkeiten – Bardi erwähnt die Pfadabhängigkeitstheorie jedoch nicht dezidiert –, denn die Herstellung von Abhängigkeiten führte in früheren Zeiten genauso wie aktuell zu verminderter Resilienz. Gerade dies kann als eine der gesicherten Erkenntnisse der interdisziplinären Resilienzforschung gelten.

 

Während auch Bardi die Resilienz des weltweiten Finanzsystems gewissermaßen fordert – allerdings ist die Meinung des Autors zum Finanzsystem in Abhängigkeit vom jeweils behandelten Thema unterschiedlich –, bleiben leider auch hier klare Lösungsvorschläge aus. So wird die Hypothekenkrise von 2008 als klassisches Beispiel eines Seneca-Effekts präsentiert. Nach Maßgaben der induktiven Logik folgert Bardi, dass von einem weiteren Kollaps auszugehen ist. Wiederum wird bei dessen Ausführungen der Determinismus-Verdacht geweckt, da er zwar mögliche Lösungen diskutiert, aber allesamt als unbefriedigend hinstellt. So polemisiert der Autor im Wesentlichen gegen einen „Krieg gegen das Bargeld“, denn eine komplette Virtualisierung des Geldverkehrs würde, genauso wenig wie eine rigorose Umverteilung, einen Kollaps wohl kaum verhindern helfen. Die einzig gangbare Option, die nach Bardi vielleicht die ersehnte Lösung bringen könnte – wiederum im Konjunktiv –, prophezeit dieser bereits als gescheitert, da niemand willens wäre sie umzusetzen. Am Ende dieser Ausführungen lässt Bardi daher den Leser, die Leserin enttäuscht und unaufgeklärt mit dem Gefühl der Ausweglosigkeit zurück. Einen diesbezüglichen Lösungsansatz formulierte kürzlich Professor Stefan Brunnhuber, welcher ebenfalls in der Studienreihe des DRI veröffentlicht wurde und einen gangbaren Weg aufzeigt, wie nicht nur das Finanzsystem gegenüber den von Bardi aufgeworfenen Problemen resilienter gemacht werden kann, sondern auch Anreize für die Erreichung der SDGs bieten würde. Damit gäbe es zumindest eine Option, die zeigt, dass die von Bardi angewandte induktive Logik und sein Determinismus-Verdacht nicht stimmen müssen. Gemessen am Kriterium der „Lösungsorientierung“ ist daher zu urteilen, dass größere Erwartungen geweckt als befriedigt werden, obwohl Bardi durchaus interessante Aspekte einführt, sie aber nicht zu Ende führt. Das entfachte Interesse wird durch einen abrupten Inhaltswechsel wieder gedämpft. 

 

Fazit

 

Das Buch ist für ein Publikum, welches sich mit den großen Themen und Theorien der Umwelt- und Systemwissenschaften vertraut machen möchte, durchaus geeignet, auch wenn die Interpretationen des Autors mit Vorsicht zu genießen sind. Positiv anzurechnen ist dem Autor aber, dass er sehr häufig seine Spekulationen und Vermutungen als solche markiert. Wie die Beispiele verdeutlichen sollten, ist  dennoch anzumerken, dass die miteinander verknüpften Aspekte und Themen in diesem Buch für ein Laien-Publikum nur schwer zu entwirren sind. Ein vertiefter wissenschaftlicher Blick zeigt, dass zahlreiche unhinterfragte, aber versteckte Annahmen  hinter teilweise fragwürdigen Aussagen und Schlussfolgerungen stehen und sich bei einem vertieften Blick häufig nur schwer erschließt, wie der Autor zu diesen gelangt. Man bleibt auf ungefähre Plausibilitäten verwiesen. Auch wäre mehr begriffliche Klarheit wünschenswert gewesen.

 

Trotz dieser „Schönheitsfehler“ ist die Lektüre dennoch empfehlenswert. Obwohl Vieles gründlicher hätte behandelt werden sollen, dafür so Manches stark gekürzt hätte werden können, und obwohl die persönlichen Vorlieben des Autors deutlich zum Vorschein treten, ist das Buch lesenswert. Denn Bardi bietet historische Interpretationen mitunter überraschender Art, eine Momentaufnahme der aktuellen Situation der Weltlage, Trendangaben sowie Hinweise darüber, wie eine nachhaltige Zukunft aussehen und erreicht werden könnte – wenn auch nur skizzenhaft. Während Laien einen Gesamteindruck über die maßgeblichen Inhalte der System- und Umweltwissenschaften erhalten, werden Angehörige des Fachpublikums ob des Themenreichtums vermutlich die eine oder andere neue Information vorfinden. Worauf das Buch jedoch Antworten verspricht – warum Systeme kollabieren und wie dies zu verhindern ist bzw. damit umgegangen werden kann –, darauf finden sich leider nur vage Hinweise. 

 

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