Martin Heidegger: Ein verkrüppeltes Genie?

 

Ein Atheist wird kirchlich beerdigt

 

In der weit verbreiteten Biografie: „Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit“ (10. Auflage 2020) beschreibt Rüdiger Safranski Heideggers Tod im 87. Lebensjahr. Es war ein natürliches Verlöschen: „Am 26. Mai 1976, nach einem erquickten Erwachen am Morgen, schläft Heidegger wenig später noch einmal ein und stirbt“ (477). Safranski fährt fort: „Die Beisetzung in Messkirch findet am 28. Mai statt. Ist Heidegger in den Schoss der Kirche zurückgekehrt? Max Müller erzählt, wie Heidegger auf Wanderungen, wenn man zu Kirchen und Kapellen kam, stets Weihwasser nahm und eine Kniebeuge machte. Einmal habe er ihn gefragt, ob das nicht eine Inkonsequenz sei, da er doch von den Dogmen der Kirche Abstand genommen habe. Darauf habe Heidegger geantwortet: Geschichtlich muss man denken. Und wo so viel gebetet worden ist, da ist das Göttliche in einer ganz besonderen Weise nahe“ (477).

 

Niemand hat ihn wirklich gekannt

 

Dass Heidegger kirchlich beerdigt werden will und beim Besuch von Kapellen Weihwasser nimmt und die Kniebeuge macht, passt zu ihm. Karl Löwith, der ihn jahrzehntelang kannte, sagt: „Niemand hat ihn wirklich gekannt. … Sein Gesicht lässt sich nur schwer beschreiben; denn er konnte einen nie anblicken mit offenem Blick und auf längere Zeit. … Zwang man ihn im Gespräch zu einem direkten Anblicken, so wurde sein Ausdruck verschlossen und unsicher. Die Aufrichtigkeit im Verkehr mit anderen war ihm versagt. Natürlich war ihm der Ausdruck eines vorsichtigen, bauernschlauen Misstrauens“ (Fischer 82 u. 91). 

 

Nach dem Krieg von Berufskollegen auf die Sympathie zu den Nazis festgenagelt, erleidet er einen schweren Nervenzusammenbruch. Durchschaut zu werden und die schändliche Wahrheit zugeben zu müssen, war ihm unerträglich. Hannah Arendt nennt ihn einen „charakterlosen Menschen, der sich aus allem Unangenehmen rausschwindelt“ (Fischer 15). Hans Jonas, ein Freund von Hannah Arendt, äussert sich bitter, desillusioniert: „Heidegger hat den Beweis erbracht, der noch nie in der Geschichte der Philosophie erbracht wurde, dass man ein Denker sein kann und dabei ein niedriger Mensch. … Ich fühle mich von Heidegger geschädigt, weil er mir das Vertrauen in die sittliche Kraft der Philosophie ein für allemal zerstörte“ (Fischer 16). Richard Rorty fasst die Diskrepanz zwischen dem Denker und dessen Leben zusammen: „Heidegger war ein Nazi, ein feiger Heuchler - und der grösste europäische Denker unserer Zeit“ (Fischer 16).

 

Die Undurchsichtigkeit blieb. Als Atheist wollte er kirchlich bestattet werden, so wie er auf Wanderungen in Kirchen und Kapellen stets Weihwasser nahm und die Kniebeuge machte. Und als ihn Max Müller fragte, ob das nicht eine Inkonsequenz sei, antwortete er, wie gesagt: „Geschichtlich muss man denken. Und wo so viel gebetet worden ist, da ist das Göttliche in einer ganz besonderen Weise nahe.“ Der Freund war sprachlos. Heidegger hatte einfach einen inneren Schalter gedreht und switchte vom modernen, unikalen Weltbild, in dem sie beide lebten, ins archaisch-mythische Seinsverständnis. Der „Meister aus Deutschland“ wechselte die Weltbilder wie Hüte (to switch hats)…

 

Eine klare Antwort

 

Was Max Müller eher weitergeholfen hätte, wäre eine Antwort gewesen wie: „Du hast vollkommen Recht; ich bin inkonsequent. Aber die Gebärde reicht tiefer als das moderne, rationale Denken. Unsere Vorfahren, die Gott noch im Himmel ansiedelten, besassen ein echtes Gefühl für die nicht auszulotende Tiefe des Seins; sie begriffen mehr davon als die heutige, positivistisch-materialistische Kultur, die unsere Lebensgrundlagen zerstört. Ich habe Hochachtung vor diesem Gespür der Alten; meine Ehrfurcht drückte ich mit ihrem Gestus aus. Unsere neue Seinsfrömmigkeit muss ihre Sprache erst noch finden; wir stehen ganz am Anfang des neuen Äons. Die Messe der Alten muss von Grund auf umgeschrieben werden; das ist jedoch ein Jahrhundertwerk, das Generationen in Anspruch nimmt, nicht nur Theologen, auch künstlerisch begabte Dichter und Denker, Musiker und Maler, Architekten und Bildhauer, Filmemacher und Choreographen, usw. usf. Verstehst du, was ich meine?“ Doch Heidegger sprach anders mit dem Freund; er brachte ihn zum Schweigen.

 

Vor sich selber bestehen

 

Bei der Abfassung dieses Essays fragte ich mich, wie ich Heideggers schillernde Persönlichkeit adäquat darstellen könne. Ich wollte nicht moralisieren; der Artikel sollte keine Moralpredigt werden. Die Lösung fiel mir beim Nachdenken über den Alterstraum ein. Diesem zufolge bestand Heidegger die Reifeprüfung des Lebens nicht. Das Urteil des Traums ist wie das Verdikt des Jüngsten Gerichts; dieses wird aber nicht von einer äusseren, sondern von einer inneren Instanz gefällt: vom unbewussten Selbst, das den Traum komponierte.

 

Dieses Urteil entlastete mich. Nun musste nicht mehr ich richten, sondern konnte das einer Instanz überlassen, die besser Bescheid wusste als ich. Die Alten verstanden diese Instanz als das jenseitige Jüngste Gericht, vor dem sie dereinst erscheinen müssten. Heute wissen wir, dass es darum geht, vor sich selber, dem eigenen Selbst, bestehen zu können. Unser Selbst ist mehr als das oberflächliche Ich, das stets bereit ist, uns mit Ausreden rein zu waschen. Unser Ich braucht Tiefgang, Verwurzelung im Selbst. Wir sollen wahrhaftig werden, einfach, wahr und klar - nicht undurchschaubar wie Heidegger.

 

Der Essay beginnt mit dem Alterstraum. Das zweite Kapitel analysiert Heideggers Kindheit, Jugend und Adoleszenz; dabei stellt sich heraus, dass er als junger Erwachsener an einer schweren ekklesiogenen Neurose litt. Sein Denken konnte er weitgehend aus eigener Kraft von der kirchlichen Doktrin befreien, nicht aber seine durch die Neurose verkrüppelten Gefühle. Die beiden Akte der Befreiung schildern das dritte und vierte Kapitel. Das fünfte und letzte lautet: „Das Rätsel Heidegger.“

 

Ich wünsche den Leserinnen und Lesern eine ergiebige Lektüre.

 

Rolf Kaufmann

 

Kaufmann, R.: Martin Heidegger: Ein verkrüppeltes Genie? – Heideggers Beitrag zur Bewusstseinsevolution (2021)

 

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