Was in der Krise zählt.

Zur „Logik“ des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, Teil II

 

von Robert Brunnhuber, BA, BA, MSc (DRI)

 

 

In ihrem weitsichtigen Essay „Covid-19: Was in der Krise zählt. Philosophie in Echtzeit“ (Reclam-Reihe: Was bedeutet das alles), erschienen Anfang 2020, liefern die Autoren Nikil Mukerji und Adriano Mannino eine brillante Analyse und eine fundierte Beschreibung dessen, was als „Kultur der Reaktion“ definiert werden kann: Warten bis das Problem manifest wurde, dann erst reagieren. Ihr Beitrag kann aber auch als eine Programmschrift für eine „Kultur der Prävention“ (culture of prevention) verstanden werden.

 

(I) Begonnen wird der Essay mit einer Analyse der diversen Fehleinschätzungen auf systematische-analytische Art, die aber ihrer Ansicht nach vermeidbar gewesen wären, wenn jene Erkenntnisse stärker einbezogen worden wären, die an sich klassische Themen der Philosophie darstellen: Entscheidungstheorie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Ethik. So wären die genannten „falschen sachlichen Annahmen“ und „grundlegenden Denkfehler“ (S. 29 ff. und S. 42 ff.) vermeidbar gewesen. Doch dazu weiter unten mehr.

 

(II) Abgesehen von der erkenntnistheoretischen Fundierung liefern die Autoren einen „philosophischen Beitrag zur Präventionsarbeit“, welchen sie in 10 „normativen Überlegungen“ strukturiert präsentieren, um zukünftigen Katastrophen und Krisen vorzubeugen bzw. sich darauf optimal vorzubereiten. Dabei tritt durchgehend ihre Botschaft klar hervor: Das Ende der Krise ist nicht die Beendigung des Krisenmodus alleine, sondern der Beginn des Aufbaus einer Präventionskultur. Das ist, was in der Krise zählt – der nächste „logische“ Schritt im Zuge einer kontinuierlichen Verbesserung. Mit Verweis auf jene Frage, die der Zukunftsforscher Matthias Horx in „Die Zukunft nach Corona“ aktuelle stellt, „erleben wir einen Kulturwandel, in dem alles seine Richtung ändert und eine völlig neue Zukunft entsteht?“, ist zu hoffen, dass die Lehren für den Aufbau einer Präventionskultur erfolgen. Allerdings lassen die Autoren des Essays diesen zentralen Aspekt unberücksichtigt: Der stärkste Faktor für Verhalten ist und bleibt Kultur. Das gilt speziell für Risikoeinschätzungen: Personen orientieren sich diesbezüglich immer an den Personen ihres Umfelds – einem evolutionspsychologischem Erklärungsmuster folgend, ist dies auch plausibel: Würde sich die Mehrheit irren, würde auch die Mehrheit nicht mehr leben. Die Orientierung und Anpassung untereinander ist daher die Quintessenz von Kultur. In einer Welt fortgeschrittener Sicherheit für den Einzelnen, was zweifelsohne als immens wichtige Errungenschaft verstanden werden muss, ist es aber ein Leichtes, nicht mehr präventiv agieren zu müssen. Deshalb gilt: Solange eine Kultur den Wert der Prävention nicht kultiviert hat, bleiben alle Maßnahmen reaktiv.

 

Ad (II) Wegweisung zur Präventionskultur

 

Um den Unterschied zu verdeutlichen eine Vorbemerkung: Der Essay ist dem Arzt Li Wenliang gewidmet, welcher frühzeitig auf das neuartige Virus hinweisen wollte. In einer Kultur der Reaktion wurde auch dementsprechend agiert, und das „Gerücht“ unterbunden, denn: In einer Kultur der Reaktion wird erst reagiert, wenn sich das Problem derart aufdrängt, dass es niemand mehr leugnen kann. Aber dann, wenn es niemand mehr leugnen kann, ist Prävention nicht mehr möglich. Eröffnet wird der Essay deshalb auch mit dem Hinweis der eigenen Frustration der Autoren, die, genauso wie Li Wenliang, mit ihren Texten zur Prävention anregen wollten, aber gescheitert sind, weil Ihnen faktisch alle Medienvertreter Hysterie bzw. „Panikmache“ diagnostizierten. Das ist gemessen an einer Kultur der Reaktion auch wenig überraschend. Im Kontrast dazu wird in einer, an den Prinzipien einer hochverlässlichen Organisation (HRO) orientierten, Organisation jeder Hinweis ernst genommen, bevor (!) es zu spät ist.

 

Gerade in der Medizin scheint sich ein Wandel von der Reaktion hin zur verstärkten Prävention abzuzeichnen: Operationen am Körper oder Verabreichung von Arzneimitteln, ohne das ein Problem vorliegt, führen eher zu einem Problem, als eines zu beheben. Es muss also erst eine Beschwerde vorliegen. Regenerative Mitochondrienmedizin bzw. Mitochondrientherapie, oder die Vermeidung stiller Entzündungen durch einen entsprechenden Lebensstil – bereits Hippokrates gab seinen Patienten diätetische Ratschläge zu Licht, Luft, Wasser und Nahrung etc. –, oder die Erkenntnisse zu Myokine und Terpene („Waldbaden“), um nur einige Beispiele zu nennen, eröffnen vielfältige Präventionsoptionen, die man bestenfalls aus der, in in unsere Kultur importierten „Traditionellen Chinesischen Medizin“ kennt, die per se präventiv orientiert ist.

 

Mit der Diagnose einer „Kultur der Reaktion“ wird zumindest eine Antwort auf die im Essay aufgeworfene Frage geliefert, „warum es solange dauerte, bis man das pandemische Potenzial“ (Mukerji/Mannino, 2020: S. 29) ernst nahm – ungleich zu erkannt haben. Diese Aussage bezieht sich auf die aktuelle Pandemie. Das Pandemiepotenzial war jedoch bereits an Vorwarnungen erkennbar. Zumindest der Global Risk Report des Jahres 2019 des World Economic Forum hatte eindeutig auf die Vorwarnungen des Jahres 2018 hingewiesen: Schon 2018 kam es erstmals zu einzigartigen charakteristischen Ausbrüchen, zu denen der Report anmerkt: ''If any had spread widely, it would have had the potential to kill thousands and create major global disruption'' (S. 48)

 

In ihren drei Thesen plädieren die Autoren deshalb für eine Sichtweise des „grauen Schwans“, anstelle eines schwarzen, d.h.: Wir hatten es nicht wissen können (worauf auch Ivan Krastev in seinen jüngsten Gesellschaftsdiagnosen betont hinweist): Denn (a) Pandemien sind grundsätzlich erwartbar und (b) das Pandemiepotenzial von SARS-CoV-2 war früh erkennbar. Ad (a): Pandemien treten in „relativ“ absehbaren Abständen auf, auch wenn nicht bekannt ist, wann genau – entsprechend der 3-Faktoren-Risikoformel, die als dritten Faktor die Häufigkeit hinzunimmt. Und Pandemiepläne existieren. Allerdings treten nach dem Global Risk Report 2019 des World Economic Forum mehrere begünstigende Faktoren hinzu: enge Transportnetze, urbane Bevölkerungsdichte, Entwaldung (bzw. generell: Landwirtschaft), Klimawandel, Migration. Aus der Umweltgeschichte ist längst bekannt: Der Mensch in einer Kultur der Reaktion schafft sich die Bedingungen und Gelegenheiten für seine Katastrophen selbst (so genannte ''man-made disasters''), weil er nicht holistisch (bzw. „vernetzt“ nach Frederic Vester) denkt, sondern reduktionistisch (siehe auch den Beitrag des Autors „Weltethos in der Praxis. Prävention im Zeitalter dramatischer Entwicklungen“ im DRI-Band I „Die Evolution der Menschlichkeit“). Diese genannten Bedingungen sind aber nicht die Ursache selbst, sondern bedingende und förderliche Faktoren. Einer ''Root Cause Analysis'' folgend (bzw. im Zusammenhang mit großen Datenmengen dem Pareto-Prinzip), sind es v.a. vom Tier auf den Menschen übertragene Krankheitserreger (Zoonosen), die Pandemiepotenzial aufweisen, also der Kauf von Wildtieren auf sogenannten „Wet Markets“. Das Gefahrenpotenzial solcher „Wet Markets“ ist ebenfalls längst bekannt (siehe auch Nathan Wolfs „Virus. Wiederkehr der Seuchen“), wie etwa auch der Spielfilm ''Contagion'' verdeutlicht, der annähernd einer Prophezeiung gleich kommt. Dies als ein konkretes Beispiel für jenen Zusammenhang, den der Report zwischen infektiösen Krankheiten als Folge von ''Failure of regional or global governance'' herstellt. ''Wet Markets'' sind zwar regional, doch ein e fehlende Vorbereitung tortz dessen, dass die Bedingungen für Pandemien optimal sind, ist ein Versagen einer ''global governance'', also einer fehlenden weltweiten Zusammenarbeit zur Behebung der Problematik. So heißt es auch in besagtem, lesenswerten Report: ''The world is badly under-prepared for even modest biological threats, leaving us vulnerable to potentially huge impacts on individual lives, societal well-being, economic activity and national security.'' (S. 7) Wie also der Report vor Augen führt: Auch wenn die Zukunft „offen“ ist, bedarf es keiner Prophetie, um zu wissen, dass bestimmte Wahrscheinlichkeiten zunehmen. Wenn es also korrekt ist, dass nunmehr die Bedingungen für Pandemien optimal sind, dann war diese Krise sicherlich ein Lehrmeister in Sachen Prävention und Resilienz.

 

Prävention wäre also zumindest theoretisch möglich gewesen, aber der längst bekannte Zusammenhang der Risikoforschung, dass rationales Wissen nicht mit der Motivation zu Handeln einhergeht, ist bezeichnend für eine Kultur der Reaktion.Wieso? Psychologisch lässt sich dies jedenfalls mit dem ''optimism bias'' erklären: Personen gehen bei ihren Vorhaben vom besten Ergebnis aus – also ohne negative Folgewirkungen anzunehmen. Gewissermaßen ist dies eine notwendige psychische Konstitution. Wie die Forschung zeigen konnte: Realistische Personen neigen (ungleich werden haben) zu Depressionen. Für eine Präventionskultur wäre es jedoch klüger, den von Jens Weidner beschriebenen ''Best-of-Optimismus'' zu kultivieren: Wer seine Risiken kennt und managt, kann tatsächlich optimistisch sein, seine Ziele zu erreichen. Die Dominanz eines ''optimism bias'' würde auch erklären, wieso Pandemiepläne zwar vorlagen, aber, laut den Autoren, so spät reagiert wurde. Dabei gibt es einen gravierenden Unterschied zum Thema Angst und Panikmache: Wer Risiken ausgeliefert ist, aber keine Maßnahmen ergreift, der muss entweder blind vertrauen und hoffen, oder darf berechtigt Angst haben. Doch erst dann, wenn alle Risiken „gemanagt“ wurden, ist Angst unbegründet, oder eben: Irrational. Gerade das Thema Angst verdient eine kurze Berichtigung: Folgt einem ''optimism bias'' sind beispielsweise Versicherungen eine sinnlose Sache: Sie kosten Geld, obwohl vielleicht nie etwas passiert, und wenn, dann meist nie das Schlimmste. Doch sie haben auch eine emotionale Funktion: Sie nehmen Angst, weil man abgesichert ist, für den Fall das. Daran sollte gedacht werden, wenn wieder einmal jemand mit dem Argument der Angst hantiert wird, denn auch jene, die Angstmache vermuten, haben vermutlich aus exakt diesem Grund Versicherungen. Die gleiche emotionale und rationale Funktion von Versicherungen demonstrieren die Autoren am mehrfach betonten Hedging-Prinzip: Kostengünstige Maßnahmen mit großer Wirkung sollten in jedem Fall eingeführt werden, auch wenn sie sinnlos sind – so etwa der Sicherheitsgurt im Fahrzeug, der in der überwiegenden Mehrheit der Fälle ein Accessoire ist. Laut den Autoren wurde dieses Prinzip aber verletzt, was erneut nicht überrascht, denn für solche Maßnahmen muss auch eine breite kulturelle Alzeptanz existieren – wie sich analog am Beispiel Fahrradhelme zeigte, die erst allgemein akzeptiert wurden, nachdem sie kulturell akzeptiert wurden. Ein andersgeartetes vortreffliches Beispiel für das Phänomen der Kultur der Reaktion, die aus exakt diesem genannten Grund die Nutzung des Sicherheitsgurtes für sinnlos hält, ist die polemische Anmerkung der Autoren bezüglich der Auflösung des Büros für Globale Gesundheitsrisiken unter der aktuellen Administration der Vereinigten Staaten, die erst unter dem letzten Präsidenten 2014 gegründet wurde, und dessen Auflösung nun, wie sich an den „Früchten“ zeigt, „rächt“.

 

Allerdings fehlen für einen „grauen Schwan“ die statistischen Grundlagen, die für den Sicherheitsgurt sprechen. Am Begriff der Kontagiosität (Fähigkeit zur Ansteckung) erklären die Autoren auch, welche spezifischen Charakteristika das neuartige Virus aufweist und wieso deshalb jeglicher Vergleich mit Vorläufer-Epidemien oder bekannten Mustern hinkt, so auch mit dem Verwandten SARS-CoV. Wenn die Basisreproduktionsrate von SARS-CoV-2 zwischen 2 bis 3 liegt, dann bedeutet dies, dass ohne Kontroll-Maßnahmen 50% der Weltbevölkerung (bei 2) oder gar 90% (bei 3) infiziert werden könnten. Sollte der Wert tatsächlich gegen 3 tendieren, folgt daraus, dass die Anwendung von Maximin (Maximiere das Minimum des Schadenspotenzials) in Form eines Lockdown gerechtfertigt war, zumindest aber das Maßnahmen-Bündel (Mukerji/Mannino, 2020: S. 39 f.) gemäß Hedging-Prinzip, wonach kostengünstige Maßnahmen auch unter Unsicherheit sinnvoll sind – jedenfalls in einer Präventionskultur. Deshalb erscheint die ethische Begründung der Autoren für einen Shutdown bzw. Lockdown erhellend: In einer Situation unter Unsicherheit ist es klug, Zeit zu gewinnen – in diesem Fall durch einen Lockdown –, wenn aktuell keine profunden Entscheidungen möglich sind, und der Forschung Zeit zu verschaffen, um die Informationsgrundlagen für verbesserte Entscheidungen aufzubauen. Während also neuere Publikationen einen möglichen „Fehlalarm“ oder eine Hysterie verorten, legt eine nüchterne ethische Betrachtung, die auch einen „hindsight-bias“ in Betracht zieht, eine andere Sichtweise nahe. Zudem lässt sich ein weiteres Argument anführen: Das Virus mutiert ständig. Deshalb ist klar: Ohne Lockdown findet das Virus mehr Wirte und eine zunehmende Anzahl an Mutationen findet statt, sodass entsprechen die Wahrscheinlichkeit steigt, dass daraus noch gefährliche Viren entstehen. Um es pointiert zu formulieren: Der Lockdown hat die Genese eines noch gefährlicheren Virus präventiv verhindert – zumindest erheblich verzögert –, d.h.: Auch wenn das Risiko bereits gegeben war, so wurde ein noch schlimmeres Risikopotenzial verhindert.

 

Prävention zahlt sich also aus, wie der ''Return on Prevention'' zeigt, für den die Autoren sinngemäß argumentieren, aber, wie die Autoren auch am ''Catch-22'' verdeutlichen: Gelingt Prävention, dann fällt nicht auf, dass sie sich bezahlt macht, weil nicht auffällt, dass sie gelungen ist. Somit kann der Lockdown infrage gestellt werden. Sie plädieren daher dafür, dass dieselben Fehler im Hinblick auf neue Krisen und Katastrophen nicht begangen werden, was sie jedoch gerade in Bezug auf Künstliche Intelligenz und Klimawandel diagnostizieren. Denn gerade in diesen beiden Fällen sehen wir schon jetzt (!) eine große Menge an Problemen und Folgeproblemen auf uns zukommen (siehe auch den erwähnten Global Risk Report, den Band von Thomas Ramge „Mensch und Maschine“ derselben Reclam-Reihe, sowie Manfred Spitzers jüngste Publikation zum Thema: Digitales Unbehagen), etwa wenn die „totale Vernetzung“ digitaler Technologien forciert wird, denn gewisse Risiken, wie jener eines großräumigen Blackout, sind ebenfalls graue Schwäne und nicht gänzlich unrealistisch, wie erst der kürzliche Vorfall des Blackouts in Südamerika als Vorwarnung beweist – ein enormes Risikopotenzial.

Die Ingredienzien für Prävention sind laut den Autoren daher auch Vorwarnungen (Warnzeichen) als Grundlage der realistischen Risikoeinschätzung zu nutzen, das Hedging-Prinzip als Leitprinzip zu verwenden und das fallibilistische Denken zu kultivieren.

 

Ad (I): Erkenntnistheoretische Kritik und wissenschaftstheoretische Vorstöße

 

Fallibilismus ist der Grundtenor der gesamten Analyse: Zwar listen die Autoren systematisch die diversen Denkfehler auf, die begangen wurden, die sich aber insgesamt unter Fallibilismus (mathematisch in Form von Bayes-Theorem) subsumieren lassen, d.h. der ständigen Prüfung der eigenen Annahmen, damit man nachträglich nicht in die Verlegenheit gerät, seine Einschätzung revidieren zu müssen, wenn neue Informationen vorliegen. Dass nämlich auch Experten nicht vor Denkfehlern gefeit sind, demonstrieren die Autoren an vielen Beispielen, darunter Cass Sunstein, der im Sinne eines Track-Record (Mukerji/Mannino, 2020: S. 48) einmal mehr im Zuge seiner Einschätzung der Lage zur Corona-Krise bewiesen hat, dass er den Denkfehlern, die er selbst untersucht, genauso unterworfen ist. Sunstein vertrat vor Jahren schon die Meinung, dass nur die Meinungen der Fachexperten für gesellschaftliche Risikoeinschätzungen berücksichtigt werden sollte, weil Laien horrende Denkfehlern begehen (v.a. Urteilsheuristiken). Abgesehen davon dass auch, und in manchen Aspekten sogar ganz besonders, Experten gewisse eindeutig bestimmbare Denkfehler begehen, worauf im Essay mehrfach hingewiesen wird, ist diese Einschätzung basierend auf Vorwarnungen falsch: Diese können alle Personen wahrnehmen und einschätzen – vorausgesetzt es existiert keine Kultur der Beschwichtigung. Der typische Verlauf in einer Kultur der Reaktion scheint dergestalt zu erfolgen, dass die Anfangsmeinung meistens durch das Maximax-Prinzip bestimmt wird (Maximiere das Maximum des möglichen Erfolgs im Sinne des ''optimism bias''), worunter auch fällt, Vorwarnungen zu  bagatellisieren. Nachdem erkannt wird, dass es doch gewisse negative Konsequenzen gibt, wird in zweiter Instanz das Minimax-Regret-Prinzip zum Leitgedanken erkoren, welches eine ausbalancierte Betrachtung nahelegt. In gewissen Fällen aber, ist dann das Maximin-Prinzip doch unausweichlich. Dem „Best-of-Optimismus“ folgend wäre es naheliegend, diese Reihenfolge umzudrehen, was jenen ethischen Gedanken widerspiegelt, den bereits Hans Jonas vorformulierte hatte: Im Zweifelsfall der schlechten Progrnose Vorrang vor der guten geben (in dubio pro malo). Denn den selben Fehler verorten die Autoren auch im Fall von Künstlicher Intelligenz: „Wir dürfen nicht den Fehler machen, die oft exponentiellen KI-Dynamiken so zu unterschätzen, wie wir die Dynamik der gegenwärtigen Pandemie unterschätzt haben.“ (Mukerji/Mannino, 2020: S. 105)

 

In ihrer „Abrechnung“ mit Expertenmeinungen ziehen die Autoren aber auch eine klare Grenze: Ziel ist nicht „abzurechnen“, sondern auf systematische Denkfehler aufmerksam zu machen, damit sie hinkünftig vermieden werden. Experten, wenn sie in der Öffentlichkeit stehen, sind nicht nur dem Druck ausgesetzt Recht haben zu müssen, sie wollen auch – in einer Kultur der Profilierung – recht haben. Mit dem psychologischen Selbstbestätigungseffekt erklärt sich, warum sich schließlich divergierende Meinungslandschaften ausbilden: Wurde einmal eine Meinung gefasst, sucht man nach Bestätigungen statt Widerlegungen. Aus dieser Misere gibt es zumindest zwei Auswege: Entweder eine Meinung dominiert die anderen, in Form einer Deutungshoheit oder Meinungsdiktatur, oder es erfolgt eine strukturierte Untersuchung der Diskurse, Denkprozesse und Entscheidungsfindung, sowie einer Offenlegung der involvierten Denkfehler im Sinne der von den Autoren so hochgehaltenen Sozialepistemologie: „Sie untersucht, wie Erkenntnisse in sozialen Kontexten erzeugt werden können und sollten“ (Mukerji/Mannino, 2020: S. 52) – was sich in Zeiten Sozialer Netzwerke ohnehin als relevant erweist. Damit werden die Philosophen ihrer Aufklärungsarbeit als sinngemäße „Philosophen der Aufklärung“ gerecht, da die Krise auch eine (längst unterschwellig vorhandene) „Krise des Denkens“ entlarvt habe, auf die etwa auch schon, wenn auch andersgeartet, Alan Sokal hingewiesen hatte. Dessen gerechtfertigte Kritik des „Eleganten Unsinns“ bezüglich gewissen postmodernen Denkern gilt also nicht bloß für diese postmodernen Denker – mehr Verständnis in Sachen Wissenschaftstheorie würde insgesamt helfen, auch Herrn Sokal. Denn die meisten Wissenschaftler sind sich ihrer wissenschaftstheoretischen Positionen oft gar nicht bewusst, welche aber ihr gesamtes Denken unbewusst prägen. Mehr Eigenreflexion oder „Selbsterkenntnis“ - um es klassisch philosophisch zu formulieren – sind ein Ausweg. Im Sinne einer Abwandlung des Diktums „Wer prüft die Prüfer?“, ist die Antwort auf die Frage „Wer beurteilt die Experten?“: die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.

 

Was die Autoren also unternehmen, ist nicht weniger, als das Denken selbst zu untersuchen, und zwar in der Krise am „lebenden Objekt“. Das Werk ist also im besten Sinn des Wortes Philosophie, was Gelegenheit gibt mit einem Missverständnis aufzuräumen. Trotz der Vielzahl an Definitionen, bleibt Philosophie stets dasselbe „Handwerk“: Den „Dingen“, so weit wie möglich auf den „Grund“ zu gehen, und dabei so präzise, also so „gründlich“, wie möglich zu sein. Diesem Vorhaben werden die Autoren mit Bravour gerecht. Wir als Gesellschaft können daher für diese „Aufräumarbeit“, die Ordnung in den Pluralismus der Meinungen bringt, sehr dankbar sein. Die Klarheit des Denkens kommt vor dem Denken – könnte die Sachlage zusammengefasst werden. Um etwa mit Mahatma Gandhi zu sprechen, der von sich behauptete, ein „Experiment mit der Wahrheit“ zu unternehmen: Im Endeffekt ist es irrelevant, welchen Vorstellungen jemand von der Welt anhängt, oder meint, wie die Welt, der eigenen Ansicht nach, zu sein hat. Im Endeffekt setzt sich die Wahrheit zwangsläufig durch – aber eben nur, wenn es den Pluralismus der Meinungen gibt, anstelle einer „Meinungsdiktatur“ –, denn eine Lüge oder Falschansicht lässt sich nicht ewig durchhalten, weil sie per definitionem im Konflikt mit der Wahrheit steht.

 

(III) Abschließend: „Philosophie in Echtzeit“

 

Das Büchlein ist daher auch ein Lichtblick im Hinblick auf eine Synthese der Wissenschaften, wie sie seit Platon in der Philosophie immer wieder angestrebt wurde, aber auch je nach dem Wissensaufkommen der Zeit neu zu arrangieren ist. Dabei stellt sich in einer historischen Zusammenschau heraus, dass immer wieder ein Kegelmuster auftaucht, wie dies der Wissenschaftstheoretiker Jan C. Schmidt ähnlich beschreibt (in: „Kegel und Korridore der Erkenntnis“): Nach einer „Explosion“ der Meinungen, Konzepte, Ideen und Divergenzen (dem Bauch des Kegels) bezüglich eines Themas, folgt eine Phase der Verengung auf einen Konsens (der Kegel-Hals). Die Autoren plädieren in ihren „zentralen normativen Überlegungen“ nicht nur für mehr erkenntnistheoretische Klarheit, sondern auch dafür, diese Bewegung vom Bauch zum Kegel vorzunehmen, bevor eine Krise eintritt: „Denke lieber auf Vorrat.“ Wenn es nämlich zu spät ist, dann kann nur noch „Philosophie in Echtzeit“ betrieben werden: „Sie konfrontiert uns mit enorm wichtigen philosophischen Problemen, die wir bisher womöglich nicht oder nur sehr unvollständig durchdacht haben. Und obwohl diese Probleme für uns gerade erst aufgetreten sind, haben sie schon eine Deadline“ (Mukerji/Mannino, 2020: S. 19). Denn in Krisenzeiten stellen sich auch die Grundsatzfragen erneut, beispielsweise jene vier nach Kant scheinen in der aktuellen Krise dafür prädestiniert: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?  Was ist der Mensch? Letztere stellt sich im Zuge der Frage, welchen Stellenwert die psychische und soziale Beschaffenheit des Menschen hat, sowie am Spezialfall der Vielzahl der (auch psychischen und sozialen) Einflussfaktoren auf das menschliche Immunsystem, neu. An diesem Punkt könnte als Manko eingewendet werden, dass der Begriff der Prävention im Essay tiefer ausgeschöpft hätte werden können, denn bspw. die Vielzahl der das Immunsystem stärkenden Faktoren als Inhalt in den Schulunterricht aufzunehmen, wäre echte Präventionsarbeit, die das Risikopotenzial individuell reduziert.

 

Auf die kantische Frage „Was soll ich tun?“ lässt sich jedenfalls ein präventiver Stufenplan mit dem Maximin-Prinzip als Vorrang skizzieren: (1) Auch wenn es schwierig sein sollte, so können doch die begünstigenden Faktoren mittels des DPSIR-Konzepts stellenweise entschärft und behoben werden, (2) entscheidend für Prävention wird jedoch sein, die Zoonosen im Sinne einer ''Root Cause Analysis'' zu beheben, da dies die größte Gefahrenquelle darstellt, (3) sollten tatsächlich Vorwarnungen auftreten, dann lässt sich in letzter Instanz mit dem Hedging-Prinzip dennoch noch minimal präventiv intervenieren, auch wenn das Risiko schon vorhanden sein sollte. Nachdem Prävention nach (1) bis (3) nicht erfolgte, war ein Lockdown eine letzte „Notbremse“, auch wenn es eventuell gereicht hätte, die größten Verbreitungsherde – was später als ''superspreading events'' bezeichnet wurde – einzudämmen, um die gesamtgesellschaftlichen Folgen zu vermeiden, weil das Risiko selbst bereits bestand, also nicht mehr vermieden werden konnte. Aber dies lässt sich weder im Vorhinein zweifelsfrei behaupten, wie das erste Argument zum Zeitfaktor zeigt, noch im Nachhinein, wie mit dem zweiten Argument zum Risikopotenzial erklärt. Das Hedging-Prinzip alleine wäre für Prävention jedoch zu wenig, weil bereits reaktiv. Zwar kann in Verweis auf Kants kategorischen Imperativ – um konsistent zu bleiben – gefolgert werden, dass es allgemein empfehlenswert ist, denn: Kann man wollen, dass es ein allgemeines Gesetz wäre, dieses gänzlich zu unterlassen? Wie die Autoren erklären, wäre es klug, es analog zu einem allgemeinen Gesetz anzuwenden. Dafür muss es aber auch eine kulturelle Akzeptanz geben, was die Autoren außen vor lassen. Es ist deshalb auch zu hoffen, dass der Stellenwert der Prävention, als Folge der weltweiten Krisenerfahrung, kulturell an Stellenwert gewinnt.

 

Wichtiger ist aber, dass die Anwendung des Hedging-Prinzips, weil es bereits reaktiv ist, primär nationalstaatlich operationalisiert werden kann. Es ergibt sich jedoch aus der Sache selbst, dass echte Präventionsarbeit nach (1) und (2) nur Angelegenheit einer ''global governance'' sein kann, soll das Vorhaben einer verbesserten Vorbereitung der Weltgemeinschaft erfolgreich sein und die größten Gefahrenpotenziale entschärft werden. Deshalb kann diese Krise auch als Entwicklungs-Chance verstanden werden, die weltweite Zusammenarbeit zu verbessern. Kooperation erfolgt letztlich fast immer aus der Notwendigkeit, dass Einzelne ein Problem alleine nicht zu lösen vermögen, sondern erst im kollektiven Willensakt. Bis dato gab es außerordentlich große Fortschritte darin, die Gesellschaft für Individuen sicherer zu machen. Dieses Vorhaben gilt es nun auf die Weltgemeinschaft auszudehnen.

 

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