Weltethos für das 21. Jahrhundert oder: Wie kann Zukunft (ethisch) berücksichtigt werden? (Teil I)

Robert Brunnhuber

Researcher, DRI

 

Weltethos für das 21. Jahrhundert oder: Wie kann Zukunft (ethisch) berücksichtigt werden?

 

Mehrere soziologische Jugend-Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die heutige Jugend über ihre eigene Zukunft und jene zukünftiger Generationen besorgt ist (bspw. Carabelli/Lyon, 2016; Cook, 2016; Threadgold, 2012), da tendenziell ein Zukunftspessimismus überwiegt. Auch wenn manche Studien zu dem gegenteiligen Schluss gelangen sollten, so liegt doch eine große Zahl mit der Pessimismus-Konklusion vor, die lautet, dass zwar länderspezifisch die eigene Zukunft durchaus optimistisch betrachtet wird, aber die Zukunft des Planeten pessimistisch, wie dies Threadgold (2012) pointiert herausarbeitete. Die ''Fridays-for-Future''-Bewegung mit ihrem sinngemäßen Slogan „Wozu Matura ohne Zukunft?“, ist daher nur die plausible Folge eines schon länger vorhandenen unterschwelligen Pessimismus: Ohne prosperierende (gesellschaftliche) Zukunft haben (individuelle) Ambitionen keinen Sinn. Diese Bewegung mag nach Hans-Martin Schönherr-Mann in seinem Beitrag des Sammelbandes „Weltethos für das 21. Jahrhundert“ erst dann die Weltordnung prägen, wenn sie zu einer institutionellen Organisation wird. Doch sie ist sicherlich Ausdruck eines starken zivilgesellschaftlichen Engagements, welches auf wahrgenommene Problemlagen aufmerksam macht, wie dies für zahlreiche frühere Bewegungen, etwa die 1968er, gegolten hat. In einer Entwicklungsperspektive ist dies eine logische Folge (vgl. DRI, 2019). Im Fokus der Debatte steht jedoch nicht mehr die Gegenwart mit einer peripheren Zukunft, sondern die Zukunft selbst. Wie jedoch über Zukunft diskutiert werden kann, ist, abseits der Klimathematik, gesellschaftlich noch zu lernen. 

 

Kürzlich erschien dieser neue Sammelband zum Weltethos, der zu dieser Diskussion anregen kann, darf und soll. Zur Ergänzung des Inhalts werden in diesem Blogbeitrag im Teil (I) Ausführungen zur seit 2018 vorhandenen 5. Weisung des Weltethos geliefert, im (II) Teil Varianten vorgestellt, welche Konzepte aus der Welt der Wissenschaft eine Annäherung an die Zukunft erlauben, um dann im (III) Teil „zukunftsethisch“ konnotierte Ansätze zu erörtern. 

 

(I)   „Verpflichtung auf eine Kultur der Nachhaltigkeit und Fürsorge für die Natur“

 

Dieser Titel der 5. Weisung des Weltethos unterstreicht erneut, und wenig überraschend, den für den Weltethos-Gedanken typischen Aspekt der Betonung von „Kultur“ als Nährboden menschlicher Gesellschaften: Kultur formt den Menschen und die Menschen reproduzieren Kultur. Dazu weiter unten mehr, an dieser Stelle jedoch einige kurze Anmerkungen zur etwas vagen, jedenfalls abstrakteren ethischen Forderung der „Fürsorge für die Natur“ (''Care for the Earth''). Was der Text zur Weisung leider außer Acht lässt, ist die Lösung des moralischen Dilemmas zwischen menschlicher Einnahme der „Natur“ für gesellschaftliche Zwecke und einer respektvollen Zurückhaltung zur Bewahrung ihrer Integrität. Es gibt zwar humanökologische Konzepte, die sich mit dieser Frage befassen und Lösungen formulieren, sodass der Text als Forderung zu ihrer Umsetzung interpretiert werden sollte, doch ethisch lässt sich dies nur als Balanceakt lösen, insofern der Text auch zur Mäßigung aufruft. Rolston (1997) diskutiert in einem Beitrag mehrere Modelle, wie der „Natur gefolgt“ werden kann. Zur Umsetzung der „Fürsorge für die Natur“ passt das Modell, welches er „homöostatischer Sinn“ nennt: „Der Kernpunkt, den wir bedenken müssen, ist, dass es unter unseren bewussten Möglichkeiten einige gibt, die uns helfen werden, die Stabilität im Ökosystem und in unseren Beziehungen zu ihm zu erhalten, während andere dies nicht tun. […] Der Natur zu folgen bedeutet, einen Weg der Unterwerfung unter die Natur zu wählen, der die Naturgesetze zu unserem eigenen Wohlbefinden nutzt.“ (S. 255) Die eigentliche normative Frage ist daher der Grad der Intensität des legitimen ethischen Eingriffs. Dies ist noch wenig erhellend, hat aber eine theoretische und praktische Komponente. 

 

Theoretisch: Rolston verwendet für dieses Modell auch den Begriff des Ökosystems. Liest man den Volltext zur Weisung (siehe: https://parliamentofreligions.org/parliament/global-ethic/fifth-directive ) umweltethisch, so fällt auf, dass ein Ökozentrismus in der Ausdrucksweise stark hervorsticht. Nach dieser Position besitzen Ökosysteme einen moralischen Status, einzelne Lebewesen sind nach dem Ökozentrismus nicht von ethischer Relevanz. Dies ist zunächst schwer vorstellbar, insofern Ökosysteme als Systeme abstrakt anmuten und einzelne Lebewesen konkret wahrnehmbar sind. Ökologisch, im Sinne der empirischen Wissenschaft, ist dies aber sinnvoll, denn zumindest zwei empirische Phänomene stützen diese Annahme: (1) Redundanz: in resilienten Ökosystemen gibt es i.d.R. mehrere Lebewesen, die dieselbe Funktion für das Ökosystem erfüllen können. Primär entscheidend ist nämlich die Existenz des Ökosystems, welches Habitate für verschiedene Arten bietet. Denn Lebewesen können ein ihnen würdiges Leben nur unter den ihnen entsprechenden Lebensbedingungen führen. Einzelne Arten zu retten, etwa in einer Arche, bedeutet sie ihres Lebensraumes zu berauben. Ökosysteme zu retten bedeutet, dem Leben Chancen zu geben, sich selbst zu entfalten. Lebewesen erfüllen damit Funktionen für das „größere Ganze“, in das sie eingebettet sind, und von dem sie profitieren. Aber selbst wenn nur eine Art eine essentielle Funktion für ein Ökosystem erfüllen sollte, bzw. funktionalen Vorrang besitzt (z.B. ''keystone species''), bemisst sich ihr moralischer Status in ihrer Leistung für das Ökosystem, und damit auch für andere darin situierte Arten, inklusive ihrer selbst. Ethisch verwerflich ist nämlich nicht die Verfolgung von Eigeninteressen, sondern die Verfolgung von Eigeninteressen zum Schaden des „größeren Ganzen“. Arten verfolgen innerhalb von Ökosystemen „Eigeninteressen“, aber zum Nutzen des „größeren Ganzen“. (2) ''intermediate disturbance hypothesis'': Der Eingriff des Menschen in Ökosysteme kann wegen der Störwirkung auch zur Artenvielfalt beitragen, weil die Turbulenzen eine neue Sitaution (z.B. Habitate, Nährstoffverfügbarkeit, Nahrungsnetze) erzeugen. Wenn die Stabilität gestört wird – hierbei ist jedoch die Frage wie erheblich, wie oft, wie dauerhaft, irreversibel, etc. – kann dies zu neuen Chancen für Arten führen, sich zu etablieren und zu entfalten. Dass bedeutet ethisch bewertet: Ein Eingriff an sich ist nicht ausschließlich “gut” für den Menschen und zwingend schlecht für ein Ökosystem. Wichtig ist in ökozentrischer Hinsicht allerdings, dass die ökologische Regulationsfähigkeit eines Ökosystems (z.B. Emissions-, Schadstoff- und Abfallabsorption) nicht überschritten wird (siehe: ''tipping points''), damit Lebewesen weiterhin eine Chance haben, jene Lebensbedingungen vorzufinden, die sie benötigen. Andernfalls würde die Weisung der „Achtung vor dem Leben“ verletzen werden, und, wenn die Weisung massenhaft verletzt wird, auch die Gewährleistung des Humanitätsprinzips gefährdet, da dies gleichzeitig einer Verletzung der 5. Weisung entspricht. Präziser: „Natur“ ist ein Geflecht aus historisch „gewachsenen“ materiellen und energetischen Beziehungen, die durch Naturgesetze, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiv sind, reguliert werden. Ein zu intensiver Eingriff in dieses Geflecht bedeutet die Wechselwirkungen der „gewachsenen Zusammenhänge“ (Wilhelm Schmid) zu zerstören. Dies ist nicht nur das Gegenteil von „Fürsorge für die Natur“, sondern auch das Gegenteil von einer institutionalisierten „Kultur der Nachhaltigkeit“, die diese Wechselwirkungen nachhaltig auch für zukünftige Generationen bewahrt, da ethisch davon ausgegangen werden muss, dass auch deren Gesellschaften von ökosystemaren Dienstleistungen abhängig sind, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Weil Ökonomie und Ökologie in ihrer dialektischen Wechselwirkung „Kontrahenten“ sind, ist es eine aktuelle Entwicklungsaufgabe, deren Versöhnung zu bewerkstelligen, bevor es zu spät ist. Brunnhuber (2019) schlägt daher vor, die „Achtung vor dem Leben“ wirtschaftsethisch derart zu berücksichtigen, dass jede ökonomische Aktivität im Zusammenhang mit einer einfachen Entscheidungsheuristik betrachtet wird: Trägt diese dazu bei ökosystemare Dienstleistungen zu erhalten, oder gar zu optimieren, oder führt sie langfristig zu deren Degradation?

 

Praktisch: Wie lässt sich diese Forderung praktisch anwenden? Dazu liefert Friedrich Glauner in seinen Beiträgen zur Ethikologie im Sammelband (siehe auch seine Eigenpublikationen), eine treffsichere Antwort. Ökonomie funktioniert in ihrer Essenz als Kosten-Nutzen-Abwägung, also der „Maxime der größten Wirkung bei geringsten Kosten“, so Glauner (S. 88). Das Problem ist jedoch eine atomistische Sichtweise, die vergisst, dass einzelne Unternehmen in ein „größeres Ganzes“ eingebettet sind, von dem sie Nutznießer sind; analog wie Arten in Ökosystemen. Wie lässt sich dieses Problem lösen? Eine erste Lösung lautet, dass Kosten abhängig vom wirtschaftlichen Kontext sind. Das berühmte Konzept der externalisierten Kosten, d.h. jene Kosten, die von der Gesellschaft bezahlt werden, schlägt vor, dass diese inkorporiert werden müssen. Die Frage, was kostensparender ist, wird dann anders beantwortet (siehe hierzu auch Bernd Villhauers Beitrag). Eine andere Lösung bezieht sich auf den Aspekt des Nutzens: In der Umweltökonomie besteht etwa auch die Möglichkeit den Nutzen, den einzelne Arten oder Ökosysteme für menschliche Gesellschaften leisten, monetär zu schätzen und deren Schutz davon abhängig zu machen (siehe: TEEB-Studie). Eine andere Antwort liefert jedoch Glauners Ethikologie. In seinem Beitrag „Das >Tübinger< Entwicklungsmodell“ liefert er dazu Beispiele und auch eine Metapher: „Der Nutzen, den Bienen für ihre Umgebungssysteme stiften, ist weitaus größer als das, was sie an Pollen und Nektar aus den von ihnen bestäubten Blüten für sich herausziehen.“ (S. 127f.) Dies bringt die Grundintention der Ethikologie der „ressourcenschöpfenden Mehrwertstiftung“ auf den Punkt. Das aktuelle Paradigma der Weltwirtschaft folgt jedoch einer andere Ausrichtung, welches Glauner in seinem Beitrag in einer Analyse der vier zentralen Begriffe dieses Paradigmas analysiert (vgl. S. 122 ff.). Eine Änderung des aktuellen Paradigmas ist geboten, denn wie Claus Dierksmeier und Christopher Gohl in ihrem Auftakt-Beitrag festhalten: „In failed states und in kaputten Ökosystemen kann man nicht verlässlich Gewinne einfahren.“ (S. 59)

 

(II) Wie kann Zukunft analysiert werden?

 

Den roten Faden des Sammelbandes bildet die aktive Verantwortung für Mitwelt, Umwelt und Nachwelt. Damit ist, wie es auch der Titel der Publikation zum Ausdruck bringt, eine Formulierung einer Ethik für die Zukunft angebracht. Diese Frage wird jedoch nur rudimentär tangiert. Deshalb erscheint es vorteilhaft, zunächst Varianten zu betrachten, die sich bereits mit dieser Frage befasst haben. In diesem Teil soll erörtert werden, wie Zukunft überhaupt analysiert werden kann. 

 

Eine interessante Herangehensweise stellt die Kliodynamik dar. Sie prognostiziert Zukunft basierend auf der Vergangenheit, genauer: Der Entdeckung von sich wiederholenden Zyklen oder Mustern, die daher nach Maßgabe der induktiven Logik, auch in der Zukunft zu ähnlichen Phänomenen führen werden. Dieser Zugang ist mathematisch und quasi-deterministisch. Gerade deswegen teilen nicht alle die Ansicht, der alte Wunschtraum, dass Historiographie sich für Prognosen eignet, sei gerechtfertigt, so Eduard Kaeser. Die Prognosen sind zudem eher negativ. So wurde etwa von dem Begründer Peter Turchin behauptet, dass das Jahr 2020 in den Vereinigten Staaten ein Jahr heftiger Unruhen gemäß eines 50-Jahres-Zyklus sei. Der Ansatz selbst ist interessant und bereichernd, doch nach diesem fällt das Element der Entwicklung mittels Verbesserungen zu wenig ins Gewicht. Außerdem sei er der Vollständigkeit wegen nur erwähnt, weil eine ausführliche Diskussion mehr Raum beanspruchen würde. 

 

Wichtig erscheint jedoch folgender Hinweis: Wenn Zukunft analysiert wird, dann kann dies auf mehrere Arten vollzogen werden. So kann „Zukunft“, die ihrem Charakter nach offen ist, tatsächlich deterministisch verstanden werden. Und dies ist laut sozialwissenschaftlichen Erklärungsvarianten durchaus stärker der Fall als gedacht. So ist es nach den Erkenntnissen von Tavory/Eliasoph (2013) im Normalmodus der Fall, dass Zukunft als Erzählung, wie sie sich gestalten wird, bereits in den „Köpfen“ präsent ist, denn nur dadurch ist eine Koordination der individuellen Aktionen involvierter Akteure überhaupt möglich: Es bedarf einer gemeinsamen Vorstellung darüber, wie Zukunft sein wird. Daher wird diese Erzählung – auch seitens der Institutionen – „naturalisiert“: Es wird so sein, ob dies gewollt wird oder nicht. Doch diese Zukunft ist kein Werk der Naturgesetzen, sondern wird aktiv kreiert, durch das Zusammen-Wirken zahlreicher Akteure, die sich an dieser Erzählung orientieren. Erst wenn unvorhergesehene Ereignisse eintreten, die dieses Zukunftsbild erschüttern, wird erkannt, dass es doch nicht so natürlich ist, wie es zu sein schien. Das interessante an dieser Erkenntnis ist jedoch: Während „Zukunft“ ihrem Charakter  nach (a) objektiv offen ist, abgesehen von wenigen Determinanten, wie externen Einflüssen oder Naturgesetzen, weshalb dem Zufallselement weiterhin kein unwichtiger Spielraum bleibt, aber durch (b) Faktoren der Wahrscheinlichkeit in mehr oder weniger wahrscheinliche Szenarien eingeteilt werden kann (z.B. mittels Vorwarnungen), im Sinne dessen, wie dies in der Zukunftsforschung erforscht wird (etwa auch im Sinne bereits existierender Pfadabhängigkeiten), existieren dennoch in den Mentalitäten einer Zeit (c) vorherrschende Erzählungen darüber, wie Zukunft aussehen wird oder soll, was die eigentliche Orientierung bei der Koordination der Handlungen einzelner Akteure bildet. In den Worten von Tavory/Eliasoph (2013): Wie Makrotrends Personen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt dazu animieren Zukunft zu imaginieren, und demgemäß mit anderen Personen so interagieren, dass diese Zukunftsvorstellung Realität wird [sinngemäße Eigenübersetzung]. Psychologisch ist dies auch nachvollziehbar: Mit dem Zufall kann nicht kalkuliert werden; Szenarien sind noch zu vage, aber gesellschaftliche Vorstellungen darüber, wie Zukunft aussehen wird, bilden Leitplanken der Orientierung, die individuelle, institutionelle, kulturelle und kollektive Anpassungen an diese Zukunftsbilder erlauben. Diese sind jedoch gesamtgesellschaftliche Konstruktionen. 

 

Dies sei erwähnt, weil es von ethischer Relevanz ist. Denn wenn diese Zukunftsbilder „naturalisiert“ werden, d.h. als deterministische Konstrukte betrachtet werden, ähneln sie Prophezeiungen, von denen angenommen wird: So wird Zukunft sein, nicht anders. Eine Anpassung an diese erscheint daher unausweichlich notwendig. In dieser Betrachtung erscheint eine ethische Navigation belanglos, weil naturalisierte Zukunftsbilder die Frage, wie soll die gesellschaftliche Zukunft aussehen, eine nur am Rande relevante Frage erscheinen lassen, die im Extremfall einer hypothetischen Geschichtsbetrachtung gleicht: Was wäre, wenn [X] gewesen oder nicht gewesen wäre, da „Zukunft“ „in den Köpfen“ als naturalisiertes Zukunftsbild bereits feststeht. 

 

Gemäß dem in der Soziologie wirkmächtigen Konzept ''Projectivity'' nach Mische (2009), auf welches sich Tavory/Eliasoph (2013) u.a. beziehen, sind Zukunfts-Projektionen untersuchbare Phänomene, weil sie soziale Prozesse gestalten und von diesen gestaltet werden: sie sind rückwirkend eine „Infusion“ in soziale Interaktionen. Deshalb kann zu deren Analyse eine Reihe von Fragen gestellt werden, u.a. was dominiert diese Zukunftsbilder und vor allem: Von wem stammen sie? Die Naturalisierung gilt etwa, so scheint es zumindest, für die Digitalisierung: Sie ist, vergleichbar einer Naturkonstante in der Natur, unausweichlich; eine Anpassung zwingend erforderlich. Dieser Makrotrend ist jedoch das Produkt der Gesellschaft. Die Gesellschaft hat sich damit die Aufgabe gestellt, sich an ihre eigene Konstruktion anzupassen. Selbstverständlich ist dieser Makrotrend unzweifelhaft bereits Bestandteil der gesellschaftlichen Realität und eine Anpassung nötig – dazu weiter unten mehr –, hier aber im Sinne des theoretischen Konzepts sei festgehalten, hinsichtlich der Diskrepanz von Umweltanliegen und Digitalisierung ist deutlich erkennbar: Zukunft wird viel stärker mit Technologisierung aller Lebensbereiche assoziiert, als mit Umweltverträglichkeit. Die Forcierung der Digitalisierung ist so selbstverständlich, dass darüber nicht debattiert werden muss. Über die Umsetzung von Umweltanliegen wird dagegen primär debattiert, aber nur punktuelle Umsetzungen erfolgen. Dies erklärt auch, wieso Anliegen der Digitalisierung viel stärker und sogar unhinterfragt auf der politischen Agenda stehen, aber Umweltanliegen dennoch gegen eine Reihe von Hindernissen stoßen: Die forcierte Digitalisierung verschiedener Bereiche, wie Wohnung, Klassenzimmer oder Städte, scheint viel eher den etablierten gesellschaftlichen Vorstellungen von Zukunft zu entsprechen, als Umweltverträglichkeit, die ein großes Fragezeichen in den „Köpfen“ hinterlässt. Die Ursache dafür lässt sich kulturell verorten, denn sie basiert auf einem Zukunftsbild der fortschreitenden Technisierung aller Lebensbereiche, die die Weltgesellschaft seit der Neuzeit in Francis Bacons „Nova Atlantis“ in ihre „kulturelle DNA“ internalisiert hat: Zukunft wird in erster Linie mit Technik assoziiert. Anders formuliert: Das Zukunft mit Technisierung gleichzusetzen ist, ist das selbstverständliche Element von Zukunft überhaupt. Mehr noch lautet die stark vereinfachte Formel: Technik ist Fortschritt, Fortschritt ist Zukunft. Eine alternative Formel könnte dagegen lauten: Zukunft ist Umweltverträglichkeit, also dient Technik der Umweltverträglichkeit, wenn es eine Zukunft geben soll. Der Unterschied: Der gesellschaftlich konstruierte Makrotrend ist für eine tragfähige Zukunftsausrichtung nicht mehr dominant, denn die Anpassung und Entwicklung der Gesellschaft wird durch ein Element der Kategorie (a), dem globalen Umweltwandel, stärker tangiert. Die Naturalisierung des Makrotrends Digitalisierung immer stärker in Zweifel gezogen. Als ein konkretes Beispiel für diese Formel kann die Atomkraft herangezogen werden. Manche befürworten ihre große Bedeutung für den Klimaschutz. Entscheidend ist an dieser Stelle nur ein Aspekt: Die Produktion von Atommüll als Altlast für zukünftige Generationen entspricht nicht der Nachhaltigkeitsidee. Doch es gibt eine Variante: Neuere Technologien erfahren eine Renaissance, die existierenden Atommüll zur neuerlichen Energiegewinnung nutzen, und so simultan die Altlast-Problematik reduzieren. Wenn also die Atomkraft als notwendiger Beitrag zum Klimaschutz betrachtet wird, dann sollte hierbei angefangen werden, denn dies ist mit Sicherheit jene Variante im Segment der Atomkraft, die im Sinne der drei Nachhaltigkeitsdimensionen mehr Vorteile verspricht, risikoärmer ist und, wenn der Argumentation in Brunnhuber (2019) gefolgt wird, Zukunft damit ethisch berücksichtigt. Allerdings ist diese Technik-Euphorie auch ihren Beweis schuldig. 

 

Lesen Sie Teil II im nächsten DRI Newsletter bzw. nächsten Blogeintrag ab Februar 2020.

 

 

Literatur: 

 

Adam, B., Groves, C. (2011): “Futures Tended: Care and Future-Oriented Responsibility.” Bulletin of Science, Technology & Society, 31/1.

 

Brunnhuber, R. (2019): Weltethos als ethisches Programm globaler Nachhaltiger Entwicklung, in: Hemel, U. [Hg.] (2019): Weltethos für das 21. Jahrhundert, Herder

 

Brunnhuber, R. (2018): Ethische Orientierung für eine Welt im Wandel. Logische Untersuchungen

zum Humanitätsprinzip in pragmatischer Absicht, Vortragsreihe des Human and Global

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Burnell, K., George, M. J., Vollet, J. W., Ehrenreich, S. E., Underwood, M. K. (2019): Passive social networking site use and well-being: The mediating roles of social comparison and the fear of missing out. Cyberpsychology: Journal of Psychosocial Research on Cyberspace, 13/3.

 

Carabelli, G., Lyon, D. (2016): Young people's orientations to the future: navigating the present and imagining the future, Journal of Youth Studies, 19/8.

 

Claisse, F., Delvenne, P. (2015): Building on anticipation: Dystopia as empowerment, Current Sociology, 63/2.

 

Cook, J. (2016): Young adults’ hopes for the long-term future: from reenchantment with technology to faith in humanity, Journal of Youth Studies, 19/4.

 

DRI (2019): „Pfeiler“ zur Entwicklung eines demokratischen Weltparlaments (UNPA). Interdisziplinäre Argumente im Rahmen einer Entwicklungsdynamik, Studienreihe des Human and Global Development Research Institute (DRI), Wien

Hemel, U. [Hg.] (2019): Weltethos für das 21. Jahrhundert, Herder

 

Janszky, S. G., Abicht, L. (2018): 2030. Wie viel Mensch verträgt die Zukunft? Leipzig

 

Mische, A. (2009): “Projects and Possibilities: Researching Futures in Action.” Sociological Forum

24/3.

 

Rolston, H. (1997): Können und sollen wir der Natur folgen? In: Dieter Birnbacher [Hg.] (1997): Ökophilosophie, Stuttgart

 

Saage, R. (1998): Bacons „Neu-Atlantis“ und die klassische Utopietradition, in: UTOPIE kreativ, Heft 93

 

Tavory, I., N. Eliasoph (2013): “Coordinating Futures: Toward a Theory of Anticipation.”

American Journal of Sociology 118/4.

 

Threadgold, S. (2012): ‘I reckon my life will be easy, but my kids will be buggered’: ambivalence in young people's positive perceptions of individual futures and their visions of environmental collapse, Journal of Youth Studies, 15/1.

 

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